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       # taz.de -- Debatte Russlands Rolle in der Welt: Der große Pragmatismus
       
       > In der sich formierenden neuen Weltordnung sieht Außenminister Steinmeier
       > die EU nicht in führender Rolle. Russland aber soll sich ihr unterordnen.
       
   IMG Bild: So entspannt ging es früher zu: Wladimir Putin, Gesundheitsministerin Tatyana Golikova und Frank-Walter Steinmeier 2009 in Moskau
       
       Weitergehende Sanktionen könnten in Russland zu einem wirtschaftlichen und
       politischen Kollaps führen, zumal das Sinken des Ölpreises das Land
       erheblich schwächt. Für den Westen hätte ein solcher Kollaps unabsehbare
       Folgen. Das verkündete der deutsche Außenminister Steinmeier am 27.
       November auf dem Wirtschaftstreffen der Süddeutschen Zeitung. Er ist
       offenbar wirklich besorgt.
       
       Steinmeiers Stellungnahme entspricht seinem bisherigen Bemühen, den
       Konflikt nicht aufzuheizen und doch den durch divergierende Interessen
       bestimmten Kampf gegen Russland nicht zu schwächen. Dass er ausgerechnet in
       diesem Zusammenhang auch für das TTIP-Abkommen warb, zeigt, dass er die
       sich verschiebenden globalen Machtverhältnisse im Blick hat, innerhalb
       deren Europa bei stotternder Währung und trotz wirtschaftlicher Scheinblüte
       keine führende Position einnimmt.
       
       So wie sich die EU-Staaten friedlich mit ihren Partnern, den globalen
       Großunternehmen und ihren privaten Schiedsgerichten, verständigen sollen,
       so soll sich Russland im eigenen Interesse friedlich in die neue
       Weltordnung einfügen. In dieser nimmt die EU eine untergeordnete, Russland
       gegenüber jedoch überlegene Position ein. Russland aber will sich als
       ehemalige Supermacht in der sich neu formierenden globalen Hierarchie
       offenbar noch nicht unter der EU und erst recht nicht unter Deutschland
       einordnen.
       
       ## Der bockige Schüler
       
       Die Sanktionen sollten Russland dazu bringen, die Unterstützung der
       Separatisten in der Ostukraine zu beenden und die Krim ihrem rechtmäßigen
       Eigentümer zurückzugeben. Das hat nicht funktioniert, weil die russische
       Regierung bockig war. Der immer wieder beschworene „Dialog“ ähnelt dem
       zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, der sich entschuldigen und in die
       Hand versprechen soll, dergleichen nie wieder zu tun.
       
       Aus polnischer und baltischer Sicht und aus Sicht der ukrainischen
       Regierung lässt sich die Szene auch anders bewerten. Russland hat das
       Völkerrecht gebrochen und ist Aggressor. Es sollte mit allen Mitteln in die
       Schranken gewiesen werden, was die ukrainische Regierung – ihrer
       politischen Pflicht folgend – auch versucht. Sie möchte zurückholen, was
       ihrem Staat weggenommen wurde. Kriegsziel der russischen Regierung ist es
       offenbar, das Hinterland der Krim zu erobern, um die Halbinsel dauerhaft
       halten zu können. Vielleicht will sie sogar die südlichen Gebiete der
       Ukraine besetzen, um eine Landbrücke nach Transnistrien zu gewinnen. Darauf
       jedenfalls verweist der wiederbelebte Begriff „Neurussland“, der unter der
       Zarin Katharina II. die frisch annektierten osmanischen Einflussgebiete
       bezeichnete.
       
       ## Nukleare Eskalation
       
       Noch hat Russland seine volle militärische Macht nicht eingesetzt. Gegen
       sie hätte eine auf sich gestellte Ukraine keine Chance. Aber offenbar
       scheut Putin die Eroberung, um nichts Unkalkulierbares auszulösen. Eine
       antirussische Guerilla wäre in der südlichen Ukraine zwar nicht zu
       befürchten, aber ein offenes militärisches Eingreifen der USA
       beziehungsweise der Nato ließe sich nicht einhegen. Dann wäre ein nukleares
       Inferno in Europa nicht mehr zu vermeiden. Die von der Bundesregierung
       wiederholte Formel, der Konflikt könne nicht militärisch gelöst werden,
       richtet sich vor allem gegen jene Beobachter, die dennoch einen
       Militärschlag gegen Russland herbeisehnen und dem Westen Appeasement
       vorwerfen. Als Außenminister kann sich Steinmeier von den Sanktionen nicht
       distanzieren. Also unterstreicht er die Gefahren, die von einem
       Staatszerfall Russlands ausgehen. Schon Sanktionen können Folgen haben, die
       keiner will, und der abstürzende Ölpreis schadet Russland ohnehin weit
       mehr. Er stärkt die westliche Position und erhöht zugleich die Risiken.
       
       Steinmeiers Hinweis, es gehe nicht darum, Russland ökonomisch zu besiegen,
       ist allerdings nicht ganz ehrlich, denn Wirtschaftssanktionen setzt man in
       Gang, um einen Gegner zur Vernunft zu zwingen. Russland kann dieses
       Vorgehen kaum verurteilen; es selbst hat ja immer wieder Sanktionen gegen
       unbotmäßige ehemalige Sowjetrepubliken eingesetzt, etwa mit Importverboten
       gegen Moldau und Georgien, Länder, die auf den russischen Markt angewiesen
       waren.
       
       ## Ist Putin das kleinere Übel?
       
       Putin sitzt in Russland zwar scheinbar fest im Sattel. Die Sanktionen und
       der sinkende Ölpreis können aber mürrische Stimmungen wie in der
       dahinsiechenden Sowjetunion beziehungsweise wie in der Epoche Jelzins
       verbreiten. Sie würden sich gegen Putin und seine Herrschaftsgruppe
       richten. Es wäre naiv, davon auszugehen, dass Russland dann zu einem
       demokratischen Rechtsstaat werden könnte. Man mag in Putin einen
       skrupellosen Verbrecher sehen, aber nichts spricht dafür, ihn für naiv oder
       fanatisch zu halten. Was nach ihm kommt, könnte ebenso brutal, aber weitaus
       unbedachter und irrationaler sein. In Putins bisheriger Regierungszeit
       wurden zwar weder Demokratie noch Rechtsstaat gestärkt, aber das war auch
       in den wilden zehn Jahren unter Jelzin nicht der Fall. Die Ukraine war
       nicht besser.
       
       Die demokratische und menschenrechtlich orientierte Opposition in Russland
       hat es in den neunziger Jahren nicht geschafft, die Führung des Landes zu
       erringen, und heute ist sie viel schwächer. Es gehört zu den bisherigen
       Grunderfahrungen des 21. Jahrhunderts, dass man mit Demonstrationen zwar
       Diktaturen stürzen, aber keinen gesellschaftlichen Neuaufbau zustande
       bringen kann. Der Maidan hat damit geendet, dass die ukrainischen
       Oligarchen wieder an die Macht gewählt wurden und nun die demokratischen
       Ideale verkörpern. In Russland sind die Oligarchen wirtschaftlich aktiv und
       politisch entmachtet. Hier wird die Herrschaft nicht zu den skrupellosen,
       aber rationalen Oligarchen zurückkehren.
       
       Einen Staatszerfall, wie ihn Steinmeier offenbar befürchtet, würde die Welt
       auf jeden Fall noch aufregender machen. Putin ist sicherlich nicht das
       geringste Übel, aber es kann zu weitaus schlimmeren Konstellationen kommen.
       Vielleicht ist der deutsche Außenminister ja ein Feigling. Aber wer sagt,
       dass das falsch ist?
       
       2 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erhard Stölting
       
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