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       # taz.de -- Kolumne Darum: 130 Minuten Höchststrafe
       
       > Wer Kinder bestrafen will, bestraft am Ende nur sich selbst. Allein die
       > deutsche Hochkultur hält passende Sanktionen für jeden Zweck parat.
       
   IMG Bild: Ach, Siegfried, ach: Bist schon eine Strafe für die Menschheit.
       
       Zu den größten Absurditäten im Elterndasein gehört, dass man die, die man
       liebt, gelegentlich zu bestrafen hat. Alles ist tausendmal gesagt, jede
       Ermahnung ist zur Redundanz geworden, der teure Cello-Bogen wird trotzdem
       zum Fechten genommen oder ein Zimmer so zugemüllt, dass selbst
       Joghurtbecher davonlaufen, weil sie Platzangst bekommen. Da folgt dann eine
       Strafe.
       
       „Strafe ist Wiederanwendung der Tat auf den Täter“, schreibt Hegel in
       seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts. Sollen wir den Sohn jetzt
       mit dem Cello-Bogen niederfechten? Die Tochter zumüllen? Das bringt nichts.
       Schon Marx strafte Hegel sinngemäß mit dem Satz, dass Strafen den
       Verbrecher nicht nur sanktionieren, sondern ihn manchmal erst
       hervorbringen.
       
       Aus dem modernen Strafrecht wissen wir, dass Strafen in einem klar
       erkennbaren Zusammenhang zur Straftat stehen sollen, sie müssen angemessen
       sein und dürfen nicht zu spät ausgesprochen werden. Es macht also keinen
       Sinn, einem Kind, das geklaut hat, sechs Monate später das Fernsehen für
       immer zu verbieten.
       
       Mit unseren Strafen sind wir oft gescheitert. Ein überdrehtes Kind früher
       ins Bett zu schicken, hat nur zur Folge, dass es eben dort weiter überdreht
       ist. Dann fliegen Bücher und Kuscheltiere durch die Gegend. Wurde mehr
       gedaddelt als abgesprochen, wird die „Bildschirmzeit“ gekürzt. Das Kind
       schleicht nun mürrisch durch die Wohnung, weiß nichts mit sich anzufangen
       und hampelt Dinge an, die bis dahin als unbehampelbar galten. Kurz:
       Gestraft ist man am Ende nur selbst.
       
       ## Wagners Siegfriedsauerkraut
       
       Das ist überflüssig. Es ist ja eh überall Strafe. Man wacht morgens in
       Deutschland auf. Im Radio spielen sie Helene Fischer. Im TV läuft eine
       Nonnen-Serie. Im Internet teilt jemand einen deutschen
       Huffington-Post-Artikel. Strafe. Strafe. Strafe.
       
       Wir verzichten nun auf Strafen und überreden die Kinder zu einem kleinen
       Ausflug. Es ist kalt und grau draußen. Ein bisschen Kultur, was Buntes im
       Warmen. [1][In einem kleinen Berliner Musiktheater] läuft „Der Ring in 100
       Minuten“, die Kinderkurzfassung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“.
       Wir sitzen noch nicht auf den Plätzen, schon geht das Genörgel los. Im
       Programmheft steht: „70 Minuten – Pause – 60 Minuten“. Also 130 Minuten
       Wagner statt, wie angekündigt, 100, die Sprechzeiten des Moderatoren werden
       nicht mitgezählt.
       
       „Kann der nicht mal rechnen?“, schallt es zweistimmig. Das Stück hat noch
       nicht begonnen, da wird ein Mitschüler von den Kindern gesichtet: „Hat man
       dich auch hierher gezwungen?“ Soviel vorab zum deutschen Determinismus
       Wagners, von dem ein Neunjähriger und eine Zwölfjährige nicht viel wissen
       können, der sich dann aber auf der Bühne zeigt.
       
       Wagner ist Wagner. Siegfried ist Siegfried. Sauerkraut ist Sauerkraut. Man
       kann Schlagsahne drauftun, Zucker, Erdbeeren und bunte Streusel. Es bleibt
       trotzdem Wagners Siegfriedsauerkraut. Wucht weicht auch dann nicht, wenn
       Komik sie zu brechen versucht. Nicht die feinste Geige wird dem
       Nibelungenstoff das Antiemanzipatorische nehmen. Über zwei Stunden
       verdrehen die Kinder die Augen oder versuchen demonstrativ zu schlafen.
       Ohne es zu planen, haben wir eine erzieherische Höchststrafe gefunden.
       
       15 Dec 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.atzeberlin.de/seiten/home/seiten/aktuell.php?wagners-ring-2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Maik Söhler
       
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