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       # taz.de -- Debatte Syrien: Die Minderheitenfalle
       
       > Mit dem Ausbruch der Revolution hat das Regime das Gewaltmonopol
       > aufgegeben, Milizen starkgemacht und Minoritäten damit gefährdet.
       
   IMG Bild: Die Kleine (links) hat das noch nicht so drauf mit dem Victory-Zeichen. Vier Geschwister in Deir-ez-Zor, Juni 2013
       
       Es zählt zu den großen Versäumnissen der syrischen Opposition, sich nicht
       mit klaren Worten an die Minderheiten in Syrien zu wenden, um ihnen zu
       versichern, dass sie als integraler Bestandteil der Gesellschaft betrachtet
       werden und auch nach dem Sturz von Baschar al-Assad gleichberechtigt an der
       neuen Staatsordnung teilhaben werden.
       
       Die Terrormiliz „IS“ bekämpft religiöse Minderheiten. Es ist daher
       nachvollziehbar und berechtigt, dass der Westen sich um deren Schicksal
       sorgt. Doch automatisch anzunehmen, dass jemand, der sie wie Baschar
       al-Assad nicht offen bedroht, ihr Beschützer ist, ist ein Kurzschluss.
       
       Mit Beginn der Revolution hat das syrische Regime 2011 das staatliche
       Gewaltmonopol aufgegeben und damit auch den Minderheiten den Schutz
       entzogen. Die ersten nichtstaatlichen Akteure, die an vielen Orten zu den
       Waffen griffen und Checkpoints einrichteten, waren keine Rebellen, sondern
       regimenahe Kräfte, die selbst ernannte Bürgerwehren errichteten. Der Staat
       ließ sie gewähren, und schon bald waren sie fester Bestandteil der
       Mordmaschinerie des Regimes.
       
       Nichtstaatliche, aber regimenahe Milizen, die sogenannten Schabiha, machten
       sich auf grausame Weise einen Namen, etwa bei Massakern wie dem in der
       Gemeinde Hula im März 2012. Nachdem die Truppen des Regimes gewütet hatten,
       kamen sie und mordeten und plünderten. 108 Bewohner wurden mit Äxten,
       Messern und Schusswaffen ermordet. Unter den Opfern fanden sich auch 49
       Kinder. Auf den dann berühmt gewordenen „Sunni Markets“ verkauften die
       Schabiha, was sie in sunnitischen Häusern an sich gerissen hatten. Die
       Beute war Teil ihres Lohns.
       
       ## Regime macht Sicherheit zur Privatsache
       
       Ein deutlicheres Signal, das „Sicherheit“ von jetzt an Privatsache sei,
       hätte das Regime nicht geben können. Ein Gewaltmonopol aufzugeben, das Land
       mit einer Welle der Gewalt zu überziehen, ein Klima der Unsicherheit nicht
       nur zuzulassen, sondern bewusst zu schaffen, das war der größte
       Bärendienst, den das Regime Minderheiten erweisen konnte. Den „Schutz der
       Minderheiten“ als Aushängeschild des Regimes zu preisen, wie es viele
       Regimetreue und darunter christliche Würdenträger bis heute tun, ist
       höhnisch, wenn das Regime gleichzeitig sein Möglichstes tut, eine Bedrohung
       der Minderheiten herbeizuführen.
       
       Diese Strategie ist übrigens kein neues Phänomen. Bereits der Vater von
       Baschar al-Assad, Hafiz al-Assad, nahm die eigene religiöse Minderheit der
       Alawiten mit dem angeblichen Schutz in eine Art Geiselhaft. Schon damals
       lautete das Mantra: Stützt das Regime, denn alle andern wollen euch Böses.
       Die gleichzeitig an einige Alawiten vergebenen Machtpositionen schürten die
       Unbeliebtheit dieser Minderheit weiter. Die im Westen gern übernommene
       Propaganda des Regimes hinsichtlich des Minderheitenschutzes zeugt also von
       wenig Kenntnis der Situation in Syrien und ruft im Land daher vielfach
       Misstrauen hervor.
       
       Desgleichen sind auch viele SyrerInnen nicht davon überzeugt, dass die
       derzeitigen Luftschläge gegen den IS in ihrem Interesse sind. Vielmehr
       scheint es, als werde der Westen nur aktiv, wenn er sich selbst bedroht
       fühlt, etwa durch extremistische Rückkehrer. Viel zu sehr verharrt Europa
       in der alten Kolonialstrategie, religiöse oder ethnische Minderheiten als
       Partner zu stützen, wenn sie ihm nützlich sind. Während Waffenlieferungen
       an die Freie Syrische Armee bis heute umstritten sind, wurde die
       Entscheidung, die Kurden aufzurüsten, innerhalb weniger Tage getroffen.
       
       ## Und die säkulare Minorität?
       
       Viele Angehörige von Minderheiten sehen sich in einer Zwickmühle: Es fehlt
       Ihnen das Vertrauen in oppositionelle Kräfte – aber auch in das Regime. Nur
       fürchten sie Erstere mehr, während sie beim Regime das Gefühl haben, sich
       in relativer Sicherheit wiegen zu können, solange sie nicht aufbegehren.
       Dissidenten aus Minderheiten haben oft das Gefühl, vom Westen auf ihre
       Konfession reduziert zu werden und nicht als Gegner einer faschistischen
       Diktatur ernst genommen oder gar unterstützt zu werden.
       
       Der Westen tut sich und der syrischen Bevölkerung keinen Gefallen damit,
       sich auf ein rein konfessionelles oder ethnisches Verständnis von
       Minderheiten zu beschränken, denn dadurch geraten wichtige andere
       Mehrheiten und Minderheiten ins Hintertreffen.
       
       Die explizit säkularen Aktivisten in der Opposition sind in der Minderheit.
       Obwohl sie diejenigen wären, die der Westen sich vorgeblich am meisten als
       Partner wünscht, hat er sie am wenigsten unterstützt. „Nicht repräsentativ“
       seien sie, heißt es, wenn man ihre Vertreter als Gesprächspartner bewirbt.
       Die politische Minderheit, um die der Westen sich am meisten bemühen sollte
       – und sei es nur, damit sie nicht den Glauben an die westliche
       Wertorientierung verlieren –, fühlt sich daher zu Recht am meisten im Stich
       gelassen. Mit einer Mischung aus leeren Versprechungen und Ignoranz hat der
       Westen ihnen den Eindruck vermittelt, dass sein einziges Anliegen ist,
       nicht in den Konflikt hineingezogen zu werden.
       
       Assad hat ebenso wie der IS aktive Unterstützer – aber sie sind eine
       Minderheit. Fast die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist auf der Flucht.
       Die überwältigende Mehrheit der syrischen Bevölkerung würde alles dafür
       geben, in ihre Häuser zurückkehren zu können.
       
       ## Regime hilft Binnenflüchtlingen nicht
       
       Während es in Baschar al-Assads Reden meist darum geht, wie die
       „Terroristen“ zu bekämpfen seien, muss man nach Beileidsbekundungen für die
       Opfer des Konflikts mit der Lupe suchen, gar nicht zu reden von Hilfe des
       Regimes für Flüchtlinge – und das angesichts von mehr als 6 Millionen
       Binnenflüchtlingen. Diese Zahl wird vom Regime nicht angefochten.
       
       Gleichzeitig gilt die westliche Aufmerksamkeit vor allem den kriegerischen
       Akteuren, auch wenn sie – wie in jedem bewaffneten Konflikt – nur eine
       Minderheit der Bevölkerung ausmachen.
       
       Wer sich ernsthaft für eine Lösung des Konfliktes einsetzt, sollte sich
       daher nicht auf partielle Maßnahmen zum Schutz von Minderheiten oder die
       Bewaffnung einer ethnischen Gruppe beschränken, sondern Ansätze abwägen,
       die das Wohlergehen der Mehrheit in den Blick nehmen. Bei ihr handelt es
       sich vor allem um ZivilistInnen.
       
       23 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bente Scheller
       
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