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       # taz.de -- Polizeigewalt bei Castor-Protest: Mit Pfefferspray vom Baum geholt
       
       > Zeugen erheben schwere Vorwürfe gegen Beamten der Bundespolizei beim
       > Castor-Einsatz vor vier Jahren. Doch die Ermittlungen gegen ihn wurde
       > längst eingestellt.
       
   IMG Bild: Polizeieinsatz beim Castor-Transport: Beim angeklagten Einsatz sollen die Beamten weniger zimperlich gewesen sein.
       
       Lüneburg taz | Der Richter hat nur die Zeugen des Klägers geladen. Am
       ersten Verhandlungstag möchte er erst einmal herausfinden, wie stark die
       Vorwürfe wiegen. Denn klar ist, der Kläger Niels M. (38), der vor der
       Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg Schmerzensgeld und seinen
       Verdienstausfall erstreiten will, trägt die Last, den von ihm erhobenen
       Vorwurf hieb- und stichfest zu beweisen.
       
       Und der lautet: Am 9. November 2010 habe ein Beamter der
       Bereitschaftspolizei der Bundespolizei ihn grundlos mit Pfefferspray
       attackiert, als er in einem Baum hängend versuchte, nahe Gorleben im Rahmen
       des Castor-Protests ein Transparent mit der Aufschrift „Atomkraft tötet“ zu
       befestigen. Mit Reizgas in den Augen habe er sich nicht mehr auf dem Baum
       halten können und sei aus fünf Meter Höhe abgestürzt. Die Folge: Ein Bruch
       im Wirbelbereich, der ihn über Wochen ans Bett fesselte und der noch heute
       schmerzt. Und das, so prognostiziert ein Arzt, könnte noch viel schlimmer
       werden.
       
       Der Sturz ist unbestritten, die Verletzung auch. Nur sagten die
       Polizeikräfte im polizeilichen Ermittlungsverfahren aus, Niels M. sei ohne
       Fremdeinwirkung einfach so vom Baum gefallen. Das Ermittlungsverfahren
       gegen die infrage kommenden Beamten wurde von der Staatsanwaltschaft längst
       eingestellt.
       
       Im kleinen Lüneburger Gerichtsaal aber erzählen der Kläger, die zwei
       geladenen Aktivisten Florian B. und Jannik J. und der italienische Fotograf
       Simone Z., der die Szene teilweise dokumentierte, übereinstimmend die
       Geschichte eines schweren Polizeiübergriffs. Weil sie nicht näher an die
       Transportstrecke herankommen, klettern Niels M. und Jannik J. 50 Meter von
       ihr entfernt auf einen Baum, um dort ihr Transparent zu hissen – in einer
       Entfernung also, in der sie den laufenden Atomtransport nicht behindern
       können. Niels M., als professioneller Baumpfleger ein geschulter und
       geübter Kletterer, steigt dabei bis in vier Meter Höhe auf – die Entfernung
       vom Erdboden zu seinen Füßen gemessen.
       
       Ein hinzugeeilter Beamter der Bundesbereitschaft schaut sich die Szene erst
       in aller Ruhe etwa dreißig Sekunden lang an, dann richtet er das
       Pfefferspray zuerst auf den am Boden gebliebenen Florian B., dann auf die
       beiden Baumkletterer. Während er Florian B. knapp verfehlt, trifft er
       Jannik J. an der Kleidung und im Gesicht, Niels M. aber bekommt das Gas,
       dessen Spuren sich später auch an seiner Kopfbedeckung finden, in die
       Augen. „Ich habe augenblicklich die Kontrolle verloren und bin abgestürzt“,
       erinnert er sich: „Nach dem Aufprall hatte ich starke Schmerzen im Rücken
       und Brustkorb, konnte mich nicht bewegen.“
       
       Da Niels M. sich nicht von einem Polizeiarzt behandeln lassen will, zivile
       Sanitäter nicht vor Ort sind und ein angeforderter Rettungshubschrauber
       wegen des Castor-Transports keine Landeerlaubnis erhält, irren Florian B.
       und Jannik J., den Schwerverletzten im Schlepptau, noch eine dreiviertel
       Stunde durch Wald und Felder, bevor ein Helikopter Niels M. ins Krankenhaus
       fliegt. Immer wieder werden sie laut eigener Aussage von
       schlagstockschwingenden Polizisten bedroht, denen sie versuchen, die
       brisante Lage zu erklären. „Ist uns egal – verpisst euch“, bekommen sie zu
       hören.
       
       Als die Anwältin der Beklagten Jannik J. vorhält, er habe bei seiner
       polizeilichen Vernehmung den mutmaßlichen Reizgasangriff auf seinen
       Mitaktivisten nicht zur Sprache gebracht, erhebt dieser schwere Vorwürfe
       gegen die Ermittler. „Mehr ein Verhör als eine Zeugenvernehmung“ sei das
       gewesen und die Ermittler hätten ihn überhaupt nicht zu der Vorgeschichte
       des Absturzes – dem Kerngeschehen also – befragt. Da er den Reizgaseinsatz
       für unstrittig gehalten habe, habe er sich in seiner Schilderung mehr auf
       die Kette der unterlassenen Hilfeleistung nach dem Absturz konzentriert.
       „Erst als das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde, wurde mir klar, dass
       da etwas schiefgelaufen ist“, so Jannik J. vor Gericht.
       
       Das Verfahren wird im Januar mit der Vernehmung der Polizeizeugen
       fortgesetzt. Sie alle haben bislang ausgesagt, es habe keinen
       Pfeffersprayeinsatz gegen M. gegeben. „Abgesprochene Aussagen“, bewertet
       Klägeranwalt Dieter Magsam die Polizeistatements. Gelingt es ihm, sie zu
       knacken und das Gericht von der Darstellung der Zeugen zu überzeugen,
       müsste das verhinderte Strafverfahren doch noch geführt werden und sich die
       Polizeizeugentruppe wegen Falschaussagen und Strafvereitelung im Amt
       verantworten.
       
       18 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marco Carini
       
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