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       # taz.de -- London in den 80ern: Wie Oliver Hoelzle die Welt sieht
       
       > Zu gut geschmiert: Ulf Erdmann Ziegler lässt, handwerklich versiert,
       > seinen Erzähler schwadronierend durch das England der Achtziger
       > schlendern.
       
   IMG Bild: Bevor Großbritannien cool und London gentrifiziert wurde: Piccadilly Circus, 1983.
       
       Der Schluss ist erschütternd, das sei zugestanden. Er trifft den Leser mit
       voller Wucht, und Orlando kommt endlich zu seinem Recht. Er erhält die
       Aufmerksamkeit, die der Titel von vornherein verspricht.
       
       Dass dies erst nach seinem Tod geschieht, sagt viel über Ulf Erdmann
       Zieglers Roman. Dessen Erzähler, Oliver Hoelzle, deutscher (schwäbischer!)
       Betriebswirt in London mit cineastischer und überhaupt kultureller
       Kompetenz, kann nämlich nicht von sich absehen, obwohl er ständig vorgibt,
       von anderen zu erzählen. Wie alle Romanfiguren ist er ein Konstrukt, und
       dagegen ist nichts einzuwenden, so wenig wie dagegen, dass Zieglers Plot
       stellenweise ebenfalls kühne Konstruktionen braucht, um in die gewünschte
       Richtung laufen zu können.
       
       Romane sind so, sie brauchen ihre Scharniere, in denen es zuweilen
       knirscht: den kleinen Autounfall etwa, bei dem man seine künftige Frau
       kennen lernt, oder die beiden Kommilitonen im betriebswirtschaftlichen
       Studium, die den notorischen Nichtkinogänger Hoelzle mir nichts, dir nichts
       zum Cineasten machen und damit die Weichen für seine weitere berufliche
       Laufbahn stellen. „Das richtige Leben“, könnte jeder Romancier
       dagegenhalten, „treibt es da mit den Zufällen noch viel toller“, und damit
       hätte er recht.
       
       Die Scharniere knirschen bei Ziegler auch nicht zu laut, und sie sind es
       nicht, die seinen Roman scheitern lassen. Es ist im Gegenteil die Glätte
       der Handlungsführung und des Erzählgestus. Alles läuft wie geschmiert. Das
       Leben und die Zufälle treiben Zieglers Erzähler ins London der achtziger
       Jahre, wo er für einen künstlerisch angehauchten Filmverleih namens
       Turnstyle Movies als Buchhalter arbeitet.
       
       ## Er brilliert mit seinen Erkenntnissen
       
       Es ist überwiegend Arthouse-Kino, das hier vertrieben wird. Zieglers
       Erzähltechnik, handwerklich sehr versiert, reiht nun eine ganze Reihe von
       Filmstills aneinander und hat im Handumdrehen das Thatcher-England und das
       folgende Jahrzehnt aufgebaut. Der Autor weiß, welche Versatzstücke er aus
       dem Kasten nehmen muss, um ein entsprechendes Zeitbild aufzurufen. Und sein
       cineastischer Betriebswirt, anfangs noch fast ein tumber Tor, weiß bald,
       was im Reich der Zeichen alles im Einzelnen so bedeutet.
       
       Er brilliert mit seinen Erkenntnissen, wobei Sätze herauskommen wie: „Mir
       kommt es so vor, dass die meisten Menschen schneller reden, als sie denken“
       oder ein lustiges Bonmot über seine spätere Frau Barbara, eine Engländerin:
       „Nicht, dass ihr ’Mister Hoelzle‘ nicht über die Lippen gekommen wäre.
       Kunsthistorikerinnen können fast alles aussprechen, jedenfalls wenn es
       europäisch ist.“
       
       So geht das über weite Strecken des Romans. Denn wenn Hoelzle auch von
       vielen Leuten erzählt, die im Kopf zu behalten und einzuordnen nicht immer
       einfach ist, interessiert er sich letztendlich vor allem für sich selbst,
       während alle anderen blass bleiben. Mit dem eventuellen Verweis auf
       Rollenprosa lässt sich das nicht rechtfertigen.
       
       Bald lernt Hoelzle Orlando kennen, der nebenan bei einem Musiklabel
       arbeitet, das mit Turnstyle verbunden ist. Orlando ist um einiges jünger
       als Oliver; er hat einen Bruder, der auf den Tag genau ein Jahr älter ist
       als er, weswegen man den beiden lange Zeit erzählt, sie seien Zwillinge.
       Orlando ist schwarz, hat jüdische Vorfahren aus Wien (!), ist reichlich
       androgyn und überaus brillant, beinahe hochbegabt. Ob er seinen Namen von
       Virginia Woolf hat, wird nicht so recht klar. Jede Menge kulturell
       bedeutsamer Zeichen jedenfalls. Mit diesem Orlando zieht Oliver Hoelzle
       also abends nach Feierabend durch die Londoner Pubs und Clubs, und wir
       erfahren Orlandos Geschichte.
       
       ## In Zeitrafferpassagen
       
       Nein, tun wir nicht. Denn Orlando ist in Zieglers Konstruktion fast nur
       Zuhörer, und es geht um Oliver Hoelzle, und wie er die Welt sieht. Zwar
       wird über den neuen Freund erzählt, meistens in Zeitrafferpassagen, die ein
       paar Jahrzehnte Familiengeschichte auf wenigen Seiten resümieren, aber
       selbst kommt der schwarze, androgyne Londoner Jude kaum zu Wort.
       
       Die wechselnden Schauplätze, angesagt oder abgefuckt, an denen sich die
       beiden angeblich gegenseitig ihre Geschichte erzählen, sind dabei nur
       Bilderrahmen. Und die einfachsten Vorgänge müssen bedeutungsschwanger
       aufgeladen werden. „Ich wartete auf dem Bahndamm von Highbury & Islington
       auf einen Zug, der von Westen kam und aus dessen erstem Waggon sich Orlando
       winkend melden sollte, was er dann auch tat.“ Herrgott noch mal, warum kann
       er nicht einfach schreiben: „Ich holte Orlando an der Station Highbury &
       Islington ab“?
       
       Natürlich muss ich mich als Leser nicht menschlich interessieren für
       Figuren in einem Roman, der vorrangig ein durch kulturelle Codes
       bezeichnetes gesellschaftliches Zeitpanorama vorführen möchte und in dem
       die einzelnen Personen vor allem für etwas stehen. Ich muss mich nicht
       identifizieren können. Aber interessant genug, damit ich gern weiterlese,
       sollten wenigstens die Protagonisten schon sein. Von der Figur des
       Erzählers kann man das aber nicht sagen, und Orlando könnte schon
       interessant sein, hat aber keine Chance.
       
       Selbstverständlich gibt es in den raumgreifenden essayistischen Passagen
       dieses Buchs hübsche und kluge Beobachtungen, etwa über die Art und Weise,
       wie der Mittelstand seine Kinder liebt. Öfter aber bewegen sich die
       Erkenntnisse auf dem Niveau des Bonmots. Dasjenige, das am schwersten
       erträglich ist, wird ausgerechnet dem armen Orlando in den Mund gelegt:
       „Mir scheint […], die Welt ist so eine Art Fleischwolf. Egal, was man oben
       reintut, unten kommt immer Woody Allen raus.“ Da ist „die Welt“ Zieglers
       Roman allemal vorzuziehen. Aus dem Fleischwolf dieses Buchs kommt meistens
       Oliver Hoelzle raus.
       
       16 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jochen Schimmang
       
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