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       # taz.de -- Bildungswahn in Südkorea: Vier Stunden Schlaf? Durchgefallen
       
       > Nachhilfe bis zum Exzess, Auslandsaufenthalte und Schlafmangel: Südkoreas
       > Gymnasiasten geben alles für den Uni-Aufnahmetest. Ihre Eltern auch.
       
   IMG Bild: Haben's geschafft: Studentinnen der Sookmyung Universität.
       
       SEOUL taz | Am Donnerstagmorgen kommt das Land auf der Überholspur für
       einen Vormittag lang zum Stillstand: Die Büros und Aktienmärkte öffnen
       verspätet, der Luftraum bleibt vorübergehend geschlossen, sämtliche
       Militärübungen werden unterbrochen. Nichts darf die Ordnung stören, wenn
       Südkoreas Oberschüler zum Universitätseingangstest antreten. Die Prüfung,
       genannt Suneung, ist die Quintessenz des konfuzianischen Bildungshungers.
       
       Für die landesweit 640.000 Gymnasiasten werden es wohl die acht wichtigsten
       Stunden ihres Lebens, denn die Punktzahl des Suneung entscheidet, für
       welche Universität sie zugelassen werden. Wer einen Platz auf den drei
       Elite-Unis ergattert, hat wahlweise eine Festanstellung bei den großen
       Konglomeraten oder eine Beamtenlaufbahn sicher. Doch nur 2 Prozent schaffen
       das – der großen Mehrheit bleibt die gesellschaftliche Tür nach ganz oben
       versperrt. Die konformistische Gesellschaft kennt nur wenige Wege zum
       Erfolg. Alles oder nichts, heißt es für Südkoreas Jugend.
       
       Der 28-jährige Maschinenbaustudent Park Jin-hyeon erinnert sich noch gut an
       seine letzten drei Oberstufenjahre, die ausschließlich aufs Suneung
       ausgelegt waren: Um 7 Uhr klingelte die Schulglocke, bis 11 Uhr nachts
       dauerte der an die Schule anschließende Nachhilfeunterricht. Zu Hause
       warteten dann noch die Hausaufgaben auf ihn. „Am nächsten Tag ging das
       Ganze dann von vorne los“, erzählt Park, der derzeit auf der renommierten
       Seoul National University seinen Doktortitel macht.
       
       Ein gängiges Sprichwort unter Südkoreas Jugend lautet: Wenn du drei Stunden
       schläfst, wirst du den Test bestehen. Vier Stunden Schlaf – und du fällst
       durch.
       
       Im Ausland wurde das Bildungssystem lange Zeit zum Vorbild verklärt.
       Wiederholt lobte Barack Obama das Bemühen südkoreanischer Eltern, ihren
       Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen. Tatsächlich war noch vor 60
       Jahren der Großteil der Bevölkerung analphabetisch. Heute gibt es in keinem
       Land der Welt mehr Uni-Absolventen. Südkoreas Schüler zählen zu den
       Pisa-Siegern.
       
       ## Höchste Selbstmordrate der Welt
       
       Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Längst wird das
       Bildungssystem von vielen Pädagogen und Soziologen für gesellschaftliche
       Übel verantwortlich gemacht: vor allem für eine der höchsten
       Selbstmordraten der Welt. In keinem OECD-Staat fühlt sich die Jugend
       unglücklicher als im ostasiatischen Tigerstaat.
       
       Als größte Belastung nennen die meisten Befragten den massiven
       Leistungsdruck in der Schule. Eine aktuelle Umfrage des
       Gesundheitsministeriums unter 14- bis 19-Jährigen ergab, dass rund die
       Hälfte von ihnen mindestens einmal im Jahr an Suizid denkt.
       
       „Korea hat eines der besten Bildungssysteme der Welt. Das Problem ist, dass
       es hohe psychologische Kosten gibt, die die Schüler zollen müssen“,
       formulierte es der koreanischstämmige Weltbankpräsident Jim Yong Kim
       während einer Pressekonferenz Anfang November in Seoul.
       
       Tatsächlich fängt für die meisten Schüler der eigentliche Unterricht erst
       nach Schulschluss an. Über 14 Milliarden Euro gaben südkoreanische Eltern
       im letzten Jahr aus, um ihre Kinder in einem der knapp 100.000
       Nachhilfeinstitute auf den Uni-Eingangstest vorzubereiten. In dem Land gibt
       es bereits mehr Privatlehrer als staatliche. Der berühmteste von ihnen, Kim
       Ki-hoon, verdient mehr als ein durchschnittlicher Fußballnationalspieler.
       Über 150.000 zahlende Schüler lauschen seinen Onlinekursen, um sich für das
       Suneung zu wappnen.
       
       Im Wettkampf um die besten Uni-Plätze schicken wohlhabende Eltern ihre
       Kinder auch gern über die Grenzen: Laut Schätzungen der Regierung leben
       über 40.000 koreanische Schüler im Ausland, vorwiegend in den USA, in
       Kanada und Australien, um dort ihr Englisch zu perfektionieren – eines der
       Kernkriterien für den Eingangstest. Typischerweise zieht die Mutter mit dem
       Kind ins Ausland, während der Vater als Brotverdiener in der Heimat
       zurückbleibt. „Gänseväter“ werden sie genannt, weil sie wie Zugvögel reisen
       müssen, um ihre Familie sehen zu können.
       
       ## 
       
       Seit einigen Jahren bereits kämpft die Regierung gegen den Bildungswahn an.
       Auch sie hat erkannt, dass das derzeitige System die sozialen
       Ungleichheiten verstärkt und reines Bulimie-Lernen belohnt. Die Seouler
       Bildungsbehörde pocht darauf, die Schulen künftig erst ab 9 Uhr morgens zu
       öffnen, um den Schülern mehr Schlaf zu ermöglichen. Auch dürfen die
       Schulleitungen Schüler nicht mehr zwingen, bis nach zehn Uhr abends fürs
       „Selbststudium“ zu bleiben.
       
       Gleichzeitig wird autonomen Schulen regelmäßig ihre Lizenz entzogen, weil
       sie statt des vorgeschriebenen Curriculums ausschließlich auf den
       Uni-Eingangstest vorbereiten. Dennoch nehmen solche Maßnahmen letztlich nur
       die Auswüchse des Problems ins Visier, nicht jedoch die dahinterliegenden
       Ursachen.
       
       Allein die demografische Entwicklung des Landes spricht dafür, dass sich
       der Leistungsdruck für die Schüler weiter verschärfen wird. Südkorea weist
       die am schnellsten sinkende Geburtenrate der Welt auf, sodass sich die
       utopischen Erwartungshaltungen der Eltern auf immer weniger Kinder
       konzentrieren.
       
       Kein Wunder, dass sich die Spannung der Schüler nach dem achtstündigen
       Prüfungsmarathon in einem Ritual entlädt: Alle werfen ihre Lehrbücher
       gemeinsam aus dem Fenster – froh, dass es endlich vorbei ist.
       
       13 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Kretschmer
       
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