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       # taz.de -- Flucht aus der DDR: Die Briefmutter
       
       > Richard P. war in der ersten Klasse, als seine Mutter ihn zu Hause
       > einschloss und in den Westen ging. Wie ging es dann weiter?
       
   IMG Bild: Seinen Teddybär von damals hat Richard P. aufgehoben
       
       Sie stand im Türrahmen, mit meinem kleinen Bruder auf dem Arm und sagte:
       „Ich muss noch mal weg.“ Sie hatte kurze blonde Haare und trug Hosen. Sie
       winkte kurz, zog die Tür von außen ran und schloss ab. Das ist das letzte
       Bild, das ich von meiner Mutter habe, bevor sie in den Westen ging – und
       mich zurückließ.
       
       Es muss Winter gewesen sein, 1971, mein Bruder war noch ein Baby und dick
       eingemummelt. Ich hatte keine Ahnung, was los war, ich ahnte nicht mal
       etwas. Ich war sieben Jahre alt, in der 1. Klasse und fand es lustig, mal
       einen Abend in unserer Wohnung in Ostberlin allein zu sein. Das nutzte ich
       aus, ich spielte länger, als ich gedurft hätte. Bis ich müde ins Bett fiel.
       Am nächsten Morgen war ich immer noch allein und erinnerte mich an den Satz
       meiner Mutter: „Wenn du aufwachst und ich bin nicht da, rufst du die Oma
       an.“
       
       Meine Großeltern wohnten in einem Dorf am Berliner Stadtrand, meine Oma war
       rasch da, packte ein paar Sachen für mich ein und ging mit mir zur Polizei.
       Sie meldete meine Mutter als vermisst, obwohl sie von Anfang an in den
       Fluchtplan meiner Mutter eingeweiht war, wie sich später herausstellte. Die
       Stasi war auch schnell zur Stelle und fragte mich aus. Ich habe lange nicht
       verstanden, was passiert war, niemand hat mir etwas erzählt oder erklärt.
       
       Als ich begriff, dass meine Mutter in den Westen abgehauen war, war ich
       bestimmt neun oder zehn Jahre alt. Aber ich war nicht schockiert oder
       überrascht. Wie die meisten Kinder ging ich selbstverständlich davon aus,
       dass meine Mutter bald wieder da ist.
       
       Meine Eltern hatten sich Jahre zuvor getrennt, ich war so klein, dass ich
       mich an ein Familienleben mit Vater, Mutter, Kind nicht mehr erinnere. Mein
       Vater hatte unterdessen eine neue Familie. Und meine Mutter stellte mir
       irgendwann „Onkel Herbert“ vor. Das war ihr neuer Freund, er kam selten zu
       uns, aber regelmäßig. Dass er aus Westberlin war, wusste ich damals nicht.
       Vermutlich hätte ich mit dieser Information auch nicht viel anfangen
       können.
       
       ## „Deine Mutter ist eine böse Frau“
       
       Als meine Mutter von ihm schwanger war, mussten sie wohl die Idee gehabt
       haben, Mutter und Kind in den Westen zu schleusen. Jedenfalls hat „Onkel
       Herbert“ alles organisiert: Der Kofferraum eines Autos wurde so umgebaut,
       dass sich meine Mutter und das Baby darin verstecken konnten. Meine Mutter
       war Krankenschwester und hat meinem Halbbruder ein starkes Schlafmittel
       gegeben. Alles hat reibungslos geklappt.
       
       Es hätte aber auch schiefgehen können. Was dann passiert wäre, darüber
       möchte ich auch heute nicht nachdenken. Eine Mutter zu haben, die aus
       „politischen Gründen“ im Knast sitzt, das war tausendmal schlimmer, als
       keine Mutter zu haben. Oder eine, die nur als Phantom existiert.
       
       Schnell war klar, dass meine Mutter das Land illegal verlassen hatte. In
       unserem Wohnzimmerschrank lag eine Vollmacht, in der sie verfügt hatte,
       dass ich zu meiner Oma kommen soll. Drei oder vier Monate war ich bei ihr,
       dann entschieden die DDR-Behörden, dass ich zu meinem Vater und seiner
       neuen Frau kommen soll. Das war schlimm für mich, denn fortan hörte ich
       Sätze wie: „Deine Mutter ist eine böse Frau.“ „Eine Mutter, die ihr Kind
       verlässt, ist keine richtige Mutter.“ „Und dann ist sie auch noch in den
       Westen gegangen …“
       
       Ich war vollkommen zerrissen: Ich habe meine Mutter sehr geliebt, dass sie
       plötzlich richtig weg war, war schwer genug. Und nun auch noch zu hören,
       dass sie in jeder Hinsicht unzureichend war, das verstand ich nicht.
       Andererseits liebte ich auch meinen Vater. Nach der Trennung meiner Eltern
       war ich jedes zweite Wochenende bei ihm, in der Zwischenzeit habe ich ihn
       vermisst. Und nun sagte er solche Sachen über meine Mutter!
       
       ## Die Mutter der „bösen Frau“
       
       Irgendwann verboten mir mein Vater und seine neue Frau, meine Oma zu
       besuchen. Schließlich war sie die Mutter der „bösen Frau“. Das hat mich
       umgehauen. Meine Oma war damals die liebste und wärmste Person für mich,
       sie war jederzeit für mich da. Irgendwann war sie wichtiger als meine
       Mutter. Sie füllte die Lücke aus, die meine Mutter durch ihren Weggang
       gerissen hatte.
       
       Meine Oma wohnte um die Ecke, mit dem Fahrrad war ich in drei Minuten bei
       ihr. Sie zu besuchen, das wollte ich mir auf keinen Fall nehmen lassen. Ich
       ging heimlich zu ihr.
       
       Dort las ich die Briefe, die meine Mutter an mich geschrieben, aber an
       meine Oma geschickt hatte. Meine Mutter wusste, dass ich die Briefe nie
       bekommen hätte, hätte sie sie an meinen Vater adressiert. Manche Briefe
       füllten nicht mal eine Seite, viele waren lapidar. Meine Mutter schrieb,
       dass meine beiden Halbbrüder – sie hatte bald einen weiteren Sohn bekommen
       – manchmal „ungezogen“ seien. Dass sie mir ein T-Shirt mit meinem Namen
       schicken wollte, aber der Laden, wo sie es gekauft hat, nicht alle
       Buchstaben parat hatte. Dass sie sich freue, was für ein hübscher, großer
       Junge ich geworden sei. Meine Oma hatte ihr mal ein Bild von mir geschickt.
       
       Und sie schrieb Sätze wie: „Wir haben dich alle sehr lieb.“ „Ich muss immer
       an dich denken.“ „Du wirst bald hier sein.“ Merkwürdigerweise berührten
       mich diese „Liebesbezeugungen“ nicht sonderlich. Sie ließen mich zwar nicht
       kalt, und ich glaubte jedes ihrer Worte. Aber die Aussage, dass wir bald
       wieder vereint sein werden, wurde mit jedem Jahr, das weiter ins Land zog,
       relativiert. Irgendwann schrieb sie nur noch: „Du musst Geduld haben.“ Und:
       „Es wird noch eine Weile dauern, bis wir wieder zusammen sind.“
       
       ## Der geheime Ort
       
       Ich begann meine Mutter nicht mehr zu vermissen, das Bild, das ich von ihr
       hatte, verblasste immer stärker. Wenn wir ab und zu telefonierten, war es,
       als sprach ich mit einer fernen Verwandten. Hin und wieder schickte sie
       Schokolade, Spielzeug, Jeans.
       
       Die Geschenke hatten mir mein Vater und seine Frau verboten. Meine Oma
       passte mich manchmal an der Schule ab, um mir die Westsüßigkeiten
       zuzustecken. Einmal kam sie mit einer Tüte Schokonüsse, ein ganzes Kilo.
       Weil ich die nicht mit nach Hause nehmen konnte, haben meine Freunde und
       ich in einer Hofpause die gesamte Tüte in uns hineingestopft. Danach war
       mir schlecht wie schon lange nicht mehr. Im Wald hatte ich einen geheimen
       Ort, ein Astloch, wo ich manchmal Reste der Süßigkeiten versteckte.
       
       Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, als ich verstand, dass ich nie
       nachgeholt werde. 20.000 DM hatte „Onkel Herbert“ für die Flucht bezahlt.
       So viel Geld konnte er nicht noch mal aufbringen. Ich war ja auch nicht
       sein leibliches Kind, der Drang, für mich Berge zu versetzen, wird sich in
       Grenzen gehalten haben. Warum meine Mutter keinen Antrag auf
       Familienzusammenführung gestellt hat, weiß ich nicht. Darüber hat sie nie
       gesprochen.
       
       Als ich 18 war, 1982 war das, haben wir uns das erste Mal wieder gesehen.
       Meine Mutter hatte ein verlängertes Wochenende in Prag organisiert. Ich war
       aufgeregt und verwirrt. Wie wird sie aussehen? Werden wir uns nah sein?
       Komme ich mit meinen beiden Halbbrüdern klar?
       
       Als ich meine Mutter in der Hotellobby sah, nach über zehn Jahren das erste
       Mal, durchströmte mich ein tiefes Glücksgefühl – so als hätte ich sie nach
       Kriegswirren wiedergefunden. Wir verlebten vier intensive, fröhliche,
       aufregende Tage. So hätte es noch lange bleiben können. Der Abschied war
       schwer. Es gibt ein Foto, auf dem ich neben dem weißen Mercedes meiner
       Mutter stehe, rauche und heule wie ein Schlosshund.
       
       ## Es ging mir gut im Osten
       
       In jener Zeit begann ich darüber nachzudenken, ob ich auch in den Westen
       wollte. Ich versuchte über meine Mutter rauszukriegen, wie das Land
       funktionierte, ob es was für mich wäre. Sie sagte: „So etwas sollte man
       nicht aus einer Laune heraus entscheiden.“
       
       Ich ging nicht. Es ging mir gut im Osten. Ich hatte einen super Job als
       Techniker in einem Theater, ich hatte eine Frau und viele Freunde, ich war
       Schlagzeuger in einer Band. Ich hatte damals nie den Gedanken, dass die DDR
       Familien zerstörte – obwohl das ja so war. Mittlerweile durfte meine Mutter
       sogar ganz normal rüber, sie kam mehrmals im Jahr, wir trafen uns bei
       meiner Oma. Zwei Fliegen mit einer Klappe: Ich hatte meine Mutter wieder
       und der Westen kam zu mir. Ich war jetzt der mit den ganz engen
       Westkontakten, ich war etwas Besonderes. Ich trug Klamotten, die andere
       nicht hatten, ich hatte Whiskey zu Hause und die neuesten Platten.
       
       Trotzdem wollte ich auch mal meine Mutter in Westberlin besuchen. 1988
       stellte ich einen Antrag, aber der wurde abgelehnt. Ich hatte nicht
       ernsthaft damit gerechnet, dass ich fahren durfte. Vielleicht wäre ich
       damals nicht mehr zurückgekommen, und vielleicht hatten die DDR-Behörden
       das geahnt.
       
       In jener Zeit haben meine Mutter und ich nicht über „unsere Geschichte“
       gesprochen. Wir haben uns beide davor gefürchtet, das war tabu, eine
       No-go-Area. Heute würde man sagen, die Zeit war noch nicht reif. Erst als
       die Mauer gefallen war und wir uns so oft sehen konnten, wie wir wollten,
       haben wir uns daran gewagt. Das war hart, wir haben beide bitterlich
       geweint.
       
       Ich habe meiner Mutter verziehen. Ich bin froh, dass ich das geschafft
       habe, sonst könnten wir heute keinen unbeschwerten Kontakt haben. In einem
       ihrer letzten Briefe an mich als Kind schrieb sie, dass sie mich
       mitgenommen hätte, wenn sie gewusst hätte, dass das so lange dauert.
       
       Ich glaube ihr das. Ich habe keine andere Wahl.
       
       9 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
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