URI: 
       # taz.de -- Debatte 9. November 1989: Der andere Mauerfall
       
       > Der Eiserne Vorhang fiel am 9. November, heißt es. Doch tatsächlich
       > geschah es etwas früher. Eine persönliche Erinnerung.
       
   IMG Bild: Noch ein paar Tage später: Menschen am 11. November '89 auf der Mauer in Berlin
       
       Jetzt wird er wieder intoniert, der Takt der Geschichte, der zum Fall der
       Mauer am 9. November führte. Aber diese Geschichte stimmt so nicht. In
       Wahrheit war die Mauer schon vorher überwunden. Am 4. November. Natürlich
       liegt das Ereignis im Schatten des Blitzlichtersturms vom 9. November, dem
       nicht enden wollenden Gefühlsausbruch der Massen im Glück der Freiheit. Die
       Geschichte des 4. November ist etwas komplizierter: Am 1.11. sah sich die
       DDR genötigt, den visumsfreien Verkehr in die ČSSR zu gestatten. Die
       Tschechoslowaken wiederum hoben am 3.11. die Visumspflicht für den
       Grenzübertritt für DDR-Bürger nach Bayern auf.
       
       Nach dem Streit um die Prager Botschaftsflüchtlinge wollte die ČSSR nicht
       mehr Büttel der DDR-Grenzorgane sein. Nun hätte die DDR wieder die
       Visumspflicht für die Einreise in die ČSSR einführen müssen. Sie wagte
       diesen Rückfall nicht mehr. So war mit Beginn des 4.11. der Weg frei –
       nicht direkt durch den Beton, sondern an ihm vorbei, in die Freiheit. Das
       war sie doch, die große Zeitenwende. Und? Nichts! Die Medien und die
       Politiker des Westens blieben vereint in einer geballten Nichtreaktion.
       
       Die taz kommentierte das am 6.11., also vor fünfundzwanzig Jahren: „Man
       stelle sich vor, ein Traum geht in Erfüllung, und keiner merkt es so
       richtig: die Mauer ist gefallen. Seit Freitag nacht kann sich ein
       DDR-Bürger aus Karl-Marx-Stadt in seinen Trabi setzen und bis nach München
       fahren. Einen Personalausweis und genügend Sprit – mehr braucht er nicht.
       Seit Freitag ist nicht ’die Mauer symbolisch gefallen‘. Nein, die Realität
       ist gefallen und das Symbol steht in Berlin herum. Seit Freitagnacht wird
       nur noch Mauer gespielt, mit Beton, Stacheldraht, Flutlicht und Patrouille.
       Auch wenn die Freizügigkeit an der tschechisch-bayerischen Grenze nur bis
       zum Inkrafttreten des Reisegesetzes gelten soll, ist kaum noch eine
       Rückkehr zum alten Grenzregime möglich.
       
       Man stelle sich vor: Die Mauer ist gefallen und keine Politikeransprachen,
       kein Jubel, kein spontaner Fackelzug auf der Straße des 17. Juni? Der Wind
       der Geschichte hat eine solche Wucht, dass die historischen Relikte, die da
       vorbeiwirbeln, kaum noch Aufmerksamkeit erregen?“
       
       ## Ein Journalisten-Traum
       
       Es ist der Traum jedes Journalisten, als Einziger das zu sehen, was alle
       angehen wird. Ich schrieb diese Sätze voller Unruhe, ob nicht doch ein
       Konkurrent auftauchen wird, um meinen Text zu widerlegen. Er wurde nicht
       widerlegt. Aber dann irritierte mich das Schweigen doch und ein schales
       Gefühl kam auf. Ich beließ es dabei. Der Kommentar war geschrieben und die
       rasante Beschleunigung der Geschichte riss mich weiter fort.
       
       Erst als zehn Jahre später Heinrich August Winkler im zweiten Band seiner
       „Deutschen Geschichte. Der Lange Weg nach Westen“ meinen Namen nannte als
       einen der „wenigen Akteure und Beobachter“, die die Bedeutung jener
       Grenzmaßnahmen erkannte hätten, dachte ich über meinen journalistischen
       Alleingang nach. Winkler sieht in den Maßnahmen zwischen dem 1. und 4.
       November die Ursache, dass das weltgeschichtliche Ereignis vom 9. überhaupt
       möglich war. Die DDR war schon auf dem Rückzug und konnte nicht mehr mit
       Waffengewalt die Mauer verteidigen, die ja am 4. schon überwunden war.
       
       ## Mangelnde Empathie
       
       Recht zu behalten, ist zweischneidig, weil eben andere ins Unrecht gesetzt
       werden. Und um nicht Rechthaber zu sein, wird gern versichert, dass es um
       andere Dinge gehe. Tatsächlich geht es um andere Dinge und weniger um den
       vorausgreifenden Mauerfallkommentar. Es geht um das Warum! Warum reagierte
       die bundesdeutsche Publizistik und Politik nicht auf die faktische
       Überwindung der Mauer? Es war ja nicht Ergebnis einer scharfsinnigen
       Analyse oder einer prophetischen Eingebung. Der Kommentar formulierte nur
       die Evidenz. So klar und einfach die Tatsache der Öffnung der Mauer vor
       Augen lag, so klar ist leider auch der Grund, warum die Evidenz unsichtbar
       blieb.
       
       Die bundesdeutsche Öffentlichkeit sah nicht mit den Augen derer, die von
       der Mauer beherrscht wurden. Die Freiheit, die die Mauer raubte, war nicht
       die Freiheit der Westdeutschen. Das ist die bittere Botschaft hinter der
       frohen Botschaft von der Öffnung: der Mangel an Empathie für ihre
       Landsleute in der DDR im kollektiven Bewusstsein der Bundesrepublikaner.
       Sie sehnten nicht die Freiheit herbei.
       
       ## Akzeptierte Teilung
       
       Als die hochherzigen Massenfeiern von Wahnsinn und Freibier auf dem Ku’damm
       verebbten, begann in der BRD ein Prozess, langsamer als die überstürzenden
       Ereignisse einer zerfallenden DDR, aber sehr wohl nachhaltig: Man begann zu
       ahnen, als die „Wahnsinnstage“ aufhörten, dass die Ostdeutschen nicht nur
       zum Feiern gekommen waren. Sie würden mitspielen wollen. Mit latentem
       Entsetzen hörte man aus den Leipziger Montagsdemonstrationen neue Töne:
       „Wir sind ein Volk“. Noch bedrohlicher: „Ist die D-Mark nicht hier, gehen
       wir zu ihr“. Aus dem Untergang der DDR drohte der Anfang vom Ende der alten
       Bundesrepublik zu werden.
       
       Nun entwickelten sich auch die Gefühlslagen der dominierenden
       bundesdeutschen Öffentlichkeit im Medium der Bestürzung. Um einen typischen
       Kommentar zu paraphrasieren: die Westdeutschen glaubten sich in einem
       schnellen Übergang nach Europa. Sie begrüßten, dass sich der klassische
       Nationalstaat abwickelte. Wie konnte man dann die Wiedervereinigung, den
       Rückfall in den Nationalstaat für eine zeitgemäße Idee halten? Irgendwie
       konnte man sich eben Deutschland nicht anders als geteilt vorstellen.
       
       ## Beschämende Bekenntnisse
       
       Diese deutschlandpolitische Haltung ist nach wie vor ungebrochen. Denn:
       Westdeutsche, egal welcher Couleur, ob links oder rechts, erklären gern
       immer noch, gewissermaßen mit allem Freimut: Wir haben nicht geglaubt, dass
       wir den Fall der Mauer in unserer Lebenszeit erleben würden. Es ist aber
       ein beschämendes Bekenntnis. Es sagt ja: Wir haben uns mit der Mauer (und
       den Toten) abgefunden.
       
       Es ist richtig, den 9. November und das Freiheitsglück der Massen zu
       feiern. Aber wer die deutsch-deutschen Befindlichkeiten studieren will,
       sollte auch an den 4. November denken, an dem die Mauer aufhörte zu sein.
       
       9 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Hartung
       
       ## TAGS
       
   DIR DDR
   DIR Mauerfall
   DIR Der 9. November
   DIR Mauerfall
   DIR Berliner Mauer
   DIR Wende
   DIR DDR
   DIR Mauerfall
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR DDR
   DIR Zentrum für Politische Schönheit
   DIR DDR
   DIR DDR
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Berlins Lichtergrenze zum Mauerfall-Jahrestag: Walking the wall
       
       8000 Ballons symbolisierten am 9. November die Ost-West-Grenze.
       Hunderttausende sahen das Spektakel und einige erzählten ihre
       Mauer-Geschichten.
       
   DIR 25 Jahre Mauerfall: 7.000 Luftballons und ein Sorry
       
       Berlin feiert den Jahrestag des Mauerfalls. Die Führung der Linkspartei
       verurteilte unterdessen „staatliches Unrecht“ in der DDR und entschuldigte
       sich für die Rolle der SED.
       
   DIR Kindheitserleben nach der Wende: Wir sind die Wossis
       
       Luise Strothmanns Eltern zogen nach der Wende von Osnabrück in die Weite
       Mecklenburgs. Philipp Brandstädters Mutter ging von Gera in den Westen.
       Zwei Erinnerungen.
       
   DIR Die Streitfrage: „Die DDR gehört ins Museum“
       
       Ossis und Wessis müssen verschwinden, findet Museumsdirektor Rückel. Aber
       die DDR war nicht nur eine Episode, sagt Katrin Göring-Eckardt.
       
   DIR Graphic Novel zur Wende: Illustrierte Schnoddrigkeit
       
       „Treibsand“ erzählt von der Berliner Wendezeit aus Sicht eines
       US-Korrespondenten. Die Graphic Novel vereint Groteske mit kindlicher
       Naivität.
       
   DIR Debatte Mauerfall und Migranten: Geteilte Erinnerung
       
       Ostdeutsche und Migranten haben vieles gemein. Aber Einwanderer und ihre
       Kinder waren die eigentlichen Wendeverlierer.
       
   DIR DDR-Autor Scherzer über Haltung: „Ich bin wohl doch Sozialist“
       
       Der Schriftsteller Landolf Scherzer gab in seinen Reportagen Einblicke in
       die bröckelnde DDR. Ihr Ende aber sah er bis zum 9. November nicht kommen.
       
   DIR Diebstahl der Mauertoten-Kreuze: Theater um 14 weiße Kreuze
       
       Linke Extremisten? Nein: Kunst! Nach dem Diebstahl der Gedenkkreuze soll
       eine Performance entstehen, inklusive Hausdurchsuchung. Der Staatsschutz
       ermittelt.
       
   DIR Soziale Kontrolle in der DDR: Die indiskrete Gesellschaft
       
       „Auskunftspersonen“ haben der Stasi freiwillig Infos über Kollegen oder
       Nachbarn geliefert. Das Phänomen ist bislang wenig erforscht.
       
   DIR 25 Jahre Mauerfall: Wie die DDR Vertrauen schafft
       
       Als Kind im Osten fantasierte man ständig vom Westen, im Westen hatte man
       vom Osten keine Ahnung. Ist das bis heute so geblieben?