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       # taz.de -- Entführung von Gedenkkreuzen in Berlin: „Absolut geschmacklos“
       
       > Aktivisten des „Zentrums für politische Schönheit“ haben die Kreuze für
       > Mauertote in Berlin abmontiert. Opferverbände sind empört.
       
   IMG Bild: Nicht mehr da: die Gedenkkreuze im Berliner Regierungsviertel.
       
       BERLIN taz | Es ist eine einfache Aktion am Fuße des Reichstagsgebäudes,
       direkt an der Spree. Sie haben Akku-Schrauber dabei und Haushaltswerkzeug –
       und dann montieren sie die 14 weißen Kreuze ab, auf denen Namen stehen und
       Todestage. Die Kreuze erinnern an die Toten, die auf ihrer Flucht aus der
       DDR ums Leben kamen. An Günter Litfin etwa, an Marienetta Jirkowsky oder an
       Axel Hannemann.
       
       Dann packen die Aktionskünstler die weißen Kreuze ein, sie transportieren
       die Gedenkstätte ab – und niemand bemerkt es. Erst als das [1][„Zentrum für
       Politische Schönheit“], die Gruppe der Aktionskünstler, am Montagmorgen
       selbst darauf hinweist, fällt das Fehlen auf. Jetzt ermittelt die Berliner
       Polizei wegen „besonders schwerem Diebstahl“. Und Norbert Lammert,
       Präsident des Deutschen Bundestags, unter dessen Aufsicht und Verfügung das
       Denkmal steht, will sich dazu nicht äußern.
       
       Am 9. November wird mit einem großen Festakt in Berlin der 25. Jahrestag
       des Mauerfalls gefeiert. Die Aktivisten vom „Zentrum“, das in der
       Vergangenheit wiederholt mit spektakulären Kampagnen etwa gegen den
       Waffenhersteller Krauss-Maffei Wegmann oder die deutsche Syrien-Politik für
       Schlagzeilen sorgte, sagen: „Gedenken wir nicht der Vergangenheit, gedenken
       wir der Gegenwart – und reißen die EU-Außenmauern ein. Nicht mit warmen
       Worten, sondern mit Bolzenschneidern!“
       
       Laut den Aktivisten sind die Kreuze der Mauertoten der Vergangenheit nun
       dort, wo sie sich wohler fühlen: „Bei den Mauertoten von morgen, an den
       europäischen Außenmauern, an denen täglich Menschen ums Leben kommen.“
       
       Tatsächlich war die Künstlergruppe mit weißen, ähnlich aussehenden Kreuzen
       in Flüchtlingscamps nach Melilla gereist, einer spanischen Exklave an der
       nordafrikanischen Küste. Dort sammeln sich Flüchtlinge, die mit
       gigantischen Grenzvorrichtungen von der Einreise nach Europa abgehalten
       werden sollen. Auf Fotos halten die Flüchtlinge die Kreuze mit den Namen
       der deutschen Mauertoten in ihren Händen.
       
       Mit einer Spendenaktion wollen die Aktivisten nun Geld eintreiben, um eine
       weitere Reise zu finanzieren: Am 7. November sollen in Berlin Busse in
       Richtung eines Grenzzauns der EU starten. An Bord: Aktivisten,
       Bolzenschneider und Schleifmaschinen. Am 9. November soll der „erste
       europäische Mauerfall“ gefeiert werden, die Grenzzäune sollen aufgesägt
       werden. Eine kluge politische Kampagne? In Berlin sorgte die Aktion am
       Montag vor allem für Empörung.
       
       ## „Hochgradig verdächtig“
       
       Der Sprecher des Berliner Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD),
       Richard Meng, sagte der taz: „Diese sogenannte Kunstaktion ist in Wahrheit
       absolut geschmacklos und dumm. Dies mit angeblich politischen Motiven zu
       verbrämen, missachtet das Gedenken an die Opfer der Mauer.“
       
       Auch aus Opferverbänden hagelte es Kritik an der Aktion. Hugo Diederich von
       der Vereinigung der Opfer des Stalinismus, sagte: „Es geht bei unserem
       Gedenken um 28 Jahre Mauer, an der Leute abgeschossen wurden wie die
       Karnickel. Das hat mit anderen Problemen in der heutigen Zeit überhaupt
       nichts zu tun.“ Weiterhin sagte er, es sei „ein niederschmetterndes Zeichen
       für den Bundestag, dass er ein solches Vermächtnis dort nicht schützen
       kann“.
       
       Auch Olaf Weissbach, Geschäftsführer der Robert-Havemann-Gesellschaft in
       Berlin, die die Arbeit der DDR-Opposition dokumentiert, reagierte empört.
       „Es ist unfassbar, dass mitten im Regierungsviertel eine Gedenkstätte
       abtransportiert wird und niemand es merkt.“
       
       Zwar habe er Verständnis für die Probleme von Migration und den Nöten der
       Menschen in Nordafrika. „Aber diese politische Agitation und Propaganda
       zeugen von einer absoluten Respektlosigkeit gegenüber Menschen, die an
       Mauern in der innerdeutschen Grenze zu Tode kamen. Da wird eine Art von
       Avantgardismus zelebriert, die hochgradig verdächtig ist.“ Die
       Robert-Havemann-Gesellschaft ist an den Vorbereitungen zur Lichtgrenze
       beteiligt, einer Installation weißer Ballons, die am 9. November Teil des
       offiziellen Gedenkzeremoniells in Berlin sein sollen.
       
       Verständnis für die Aktion, aber Bedenken gegenüber der Form kam am Montag
       von der Flüchtlingsinitiative Pro Asyl. Deren Geschäftsführer, Günther
       Burkhardt, sagte der taz: „Es ist nachvollziehbar, eine Verbindung zwischen
       dem Fall der innerdeutschen Mauer und dem Aufbau einer neuen Mauer um
       Europa zu ziehen. Damals starben Menschen an der innereuropäischen Grenze,
       heute im Süden. Wir gedenken aller Toten an den alten und neuen Mauern.
       Über die Form der Aktion kann man sicher diskutieren.“
       
       ## Tausende Tote
       
       Und die Angehörigen der deutschen Opfer? Axel Hannemann kam am 5. Juni 1962
       ums Leben, als er versuchte, aus der DDR zu fliehen. Auch sein Name steht
       auf einem der weißen Kreuze. Wenige Meter von der heutigen Gedenkstätte
       entfernt schwamm er auf der Flucht durch die Spree, als sogenannte
       Grenzschützer ihn erschossen.
       
       Sein Bruder Jürgen Hannemann, 76, lebt heute in Cottbus. Er sagte der taz:
       „Ich kann verstehen, dass jede Möglichkeit genutzt wird, um auf das Leid an
       den EU-Außengrenzen aufmerksam zu machen.“ Es sei furchtbar, dass heute
       Menschen zu Tausenden im Mittelmeer ums Leben kämen. Er wünsche sich
       allerdings und vertraue darauf, dass die Kreuze wieder zurück an ihren
       Ursprungsort gebracht würden.
       
       Aber auch Hannemann kann sich eines nicht erklären: Wieso fiel eigentlich
       niemandem auf, dass sie weg waren?
       
       3 Nov 2014
       
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