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       # taz.de -- Debatte „Islamischer Staat“ und Islam: Suren-Bingo für Fortgeschrittene
       
       > Gehört der „IS“ zum Islam? Natürlich. Und sein Gegenteil auch. Was immer
       > Sie über „den“ Islam sagen wollen, im Koran gibt es die passende Stelle.
       
   IMG Bild: Wer ist der Islam? Türkische Kurden, die diesseits der Grenze die Kämpfe in Kobani gegen den IS verfolgen, beim Freitagsgebet.
       
       Ende September veröffentlichten 126 muslimische Gelehrte einen [1][offenen
       Brief an den „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi] und seine Anhänger. Eine
       theologische Kritik in 24 Punkten, in der jedoch eines fehlt: die sonst
       gebetsmühlenhaft wiederholte Aussage, der „Islamische Staat“ habe nichts,
       aber auch wirklich gar nichts mit dem Islam zu tun.
       
       Klar, wer die Sympathisanten des IS überzeugen will, darf sie nicht
       verprellen. Aber hinter der fehlenden Exkommunikation (im Islam takfir
       genannt), steckt mehr. Zu den Vorwürfen an die Dschihadisten gehört, dass
       diese – so wie alle Salafisten und so ziemlich jede religiöse
       Erweckungsbewegung – in exzessiver Weise andere Leute beschuldigen, vom
       wahren Glauben abgefallen zu sein. Die Gelehrten entgegnen, dass jeder, der
       sich zum Islam bekenne, als Muslim zu gelten habe. Diese Feststellung aber
       gilt logischerweise auch für die Kämpfer des „Islamischen Staates“.
       
       Es ist, dies wird aus jeder Zeile dieses Briefes deutlich, eine
       innermuslimische Auseinandersetzung, die hier geführt wird: Man streitet
       über die Deutung des Korans und der Hadithen, also die Überlieferungen des
       Propheten, man beruft sich auf dieselben Referenzen und argumentiert mit
       denselben Kategorien, und man wendet sich an ein Publikum, das zum Teil mit
       dem „Islamischen Staat“ sympathisiert.
       
       Der wiederum rechtfertigt seine Taten mit Koran und Hadithen. Die Härte
       gegenüber Andersgläubigen und den vermeintlich vom Glauben Abgefallenen,
       die Kreuzigung und Enthauptung von Feinden, die [2][Versklavung jesidischer
       Frauen und Kinder] (also von Menschen ohne „Buchreligion“) – für all das
       finden sich entsprechende Textstellen.
       
       Der Koran versteht sich als Gottes Wort, durch den Erzengel Gabriel
       Mohammed offenbart und von Mohammed verkündet. Gottes Wort ist also auch:
       „Tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet!“ [3][(Die Reue, 9:5)] Mit
       dem „Schwertvers“ und ähnlichen Passagen kann man sagen: Der Islam ist eine
       kriegerische Religion. Weshalb dieser Vers bei Dschihadisten so beliebt ist
       wie bei [4][Hobbyislamkritikern aus dem Internet].
       
       ## Klassiker der Debatte
       
       Doch im Koran steht auch: „Es gibt keinen Zwang im Glauben“ [5][(Die Kuh,
       2:256)]. Dieser Vers ist ebenfalls ein Klassiker der Islamdebatte; keine
       Talkshow und kein „Tag der offenen Moschee“ kommt ohne aus und natürlich
       wird er auch im offenen Brief erwähnt. Mit solchen Stellen kann man
       wiederum vom Islam als einer friedliche Religion sprechen. Suren-Bingo: Was
       immer Sie über „den“ Islam sagen wollen, Sie werden im Koran die passende
       Stelle finden.
       
       Diese Widersprüche erklärt der Koran mit dem Prinzip der „Abrogation“, also
       der Aufhebung älterer Vorschriften durch jüngere. Bei manchen Themen, dem
       Alkoholverbot etwa, ist eine klare Linie zu erkennen: von der Lobpreisung
       des Weines als Zeugnis der Schöpfung [6][(Die Bienen, 16:67)] über das
       Verbot, betrunken zum Gebet zu erscheinen [7][(Die Frauen, 4:43)] bis zum
       Gebot, Alkohol als „Werk des Satans“ zu meiden [8][(Der Tisch, 5:90)]. Nur
       von der Nummerierung der Suren darf man sich nicht irritieren lassen; sie
       sind im Koran nicht chronologisch angeordnet, sondern der Länge nach.
       
       Bei anderen Themen hingegen ist die Abfolge weniger eindeutig. Zum
       Beispiel, wenn es um die Aufforderung zum Dschihad, zum Heiligen Krieg
       geht. So gehört die Sure 2 mit dem „Toleranzvers“ zu den späten, die Sure 9
       mit dem „Schwertvers“ aber wurde noch später, nämlich als vorletzte
       verkündet. In der abschließend verkündeten Sure 5 wiederum findet sich ein
       weiterer Klassiker der Debatte: „Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne
       dass es einen Mord begangen oder auf der Erde Unheil gestiftet hat, so ist
       es, als ob er alle Menschen getötet hätte.“ ([9][Der Tisch, 5:32]).
       
       Gleichwohl ist eine bestimmte Tendenz erkennbar: Die frühen Suren aus Mekka
       sind theologischer und toleranter, während die späteren aus der Zeit, in
       der der Islam in Medina zur Herrschaftsreligion aufgestiegen war,
       tendenziell kriegerischer und intoleranter ausfallen.
       
       Einige Auslassungen über den Krieg kann man defensiv deuten (“Und tötet
       sie, wo immer ihr auf sie trefft, und vertreibt sie, von wo sie euch
       vertrieben haben“, [10][Die Kuh, 2:191]), andere lesen sich als
       Aufforderung zum Eroberungs- oder Bekehrungskrieg.
       
       ## In den Krieg mit Jesus und Mohammed
       
       Das Christentum hat fast 400 Jahre gebraucht, bis es von einer jüdischen
       Sekte zur Staatsreligion aufstieg. Erst danach folgten theologische
       Rechtfertigungen für Krieg und Gewalt, beginnend mit dem Kirchenvater
       Augustinus (“Die Kirche verfolgt aus Liebe, die Gottlosen aus
       Grausamkeit“). Anknüpfungspunkte fand man in den zahlreichen
       [11][blutrünstigen Stellen des Alten Testaments] (inklusive der
       [12][Versklavung jungefäulicher Gefangener]) oder in Jesus Wort, er sei
       „nicht gekommen Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ ([13][Mt 10,34]).
       Dennoch kann man sagen: Wer mit dem Neuen Testament Krieg führen will, muss
       interpretieren. Wer mit dem Koran Krieg verurteilen will, muss
       interpretieren.
       
       Vom Ergebnis betrachtet ist dieser Unterschied allerdings irrelevant. Auf
       welche Weise Martin Luther meinte, seine Aufforderung, die aufständischen
       Bauern wie „einen tollen Hund totzuschlagen“, mit der Bergpredigt
       vereinbaren zu können, welche theologischen Finessen es für die
       „Aufforderung“ (requerimiento) der Konquistadoren an die Ureinwohner
       Amerikas (“Unterwerft euch dem Papst und der spanischen Krone, sonst werden
       wir euch töten und eure Frauen und Kinder versklaven“) brauchte oder wie
       ein Theologe wie Walter Künneth auf die Idee kam, dass Atombomben „in den
       Dienst der Nächstenliebe treten“ könnten, war für die Praxis unerheblich –
       ebenso übrigens, warum die Theologie der Befreiung lieber zu den Waffen
       greifen wollte als die andere Wange hinzuhalten.
       
       Zum Streit um die richtige Interpretation lädt der Koran ausdrücklich ein.
       So heißt es in [14][Sure 3:7], der Koran bestehe aus „eindeutigen Versen“
       und „anderen, mehrdeutigen“. Auf diesen Hinweis und auf einen Hadith,
       wonach jeder Koranvers sieben Ebenen habe, beruft sich die islamische
       Mystik, der Sufismus, der den Koran allegorisch deutet. Die Suche nach den
       verborgenen Botschaften des Korans – Suren-Bingo für Fortgeschrittene.
       
       ## Rotwein zum Fastenbrechen
       
       Der Islam reicht von Denkern wie al-Farabi, Ibn Sina und Ibn Rushd, die den
       Islam mit der aristotelischen Philosophie in Einklang bringen wollten, bis
       zu Strömungen wie dem Alevitentum, die Kopftuch und Alkoholverbot ablehnen.
       Man kann mit dem Koran den Kapitalismus rechtfertigen oder für den
       [15][Kommunismus kämpfen], für oder gegen Demokratie streiten, Schwule
       verfolgen oder sich für [16][deren Rechte einsetzen].
       
       Neben allen Schulen und Konfessionen, Gelehrten und Theoretikern gibt es
       das, was Antonio Gramsci „Alltagsverstand“ (senso comune) genannt hat: das
       Konglomerat aus Versatzstücke aus Religion und Weltanschauung, Regeln und
       Normen, die in durchaus widersprüchlicher Weise nebeneinanderher
       existieren. In diesem Fall also: Individuelle Auslegungen der Religion, bei
       denen sich Gläubige manche Werte und Regeln heraussuchen und andere
       historisieren oder schlicht ignorieren.
       
       Weniger akademisch formuliert: Gemeint sind beispielsweise sunnitische
       Muslime, die den Fastenmonat Ramadan einhalten, aber zum Fastenbrechen
       Rotwein trinken, die sich als gläubige Menschen verstehen, aber bei
       Vorschriften, die nicht ihrem Lebensgefühl entsprechen, Allah einen lieben
       Mann sein lassen, ohne dass dies in ein theologisches System eingebettet
       wäre.
       
       Kurz: Der Islam ist weder eine friedliche noch eine kriegerische Religion.
       Es gibt den Islam schlechterdings nicht. Oder es gibt ihn doch: Als Summe
       dessen, was die Gläubigen daraus machen. Der Dschihadismus gehört dazu.
       Leider nicht zu knapp.
       
       31 Oct 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://madrasah.de/leseecke/islam-allgemein/offener-brief-al-baghdadi-und-isis
   DIR [2] /!147791/
   DIR [3] http://islam.de/13827.php?sura=9
   DIR [4] /!75317/
   DIR [5] http://islam.de/13827.php?sura=2
   DIR [6] http://islam.de/13827.php?sura=16
   DIR [7] http://islam.de/13827.php?sura=4
   DIR [8] http://islam.de/13827.php?sura=5
   DIR [9] http://islam.de/13827.php?sura=5
   DIR [10] http://islam.de/13827.php?sura=2
   DIR [11] http://www.die-bibel.de/online-bibeln/einheitsuebersetzung/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/6/80001/89999/ch/91ab3671f8098b0a5592a57f8b54434d/
   DIR [12] http://https//www.die-bibel.de/online-bibeln/einheitsuebersetzung/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/4/310001/319999/ch/4ab4f3681d4ffbf7bc060a60f679a1eb/
   DIR [13] http://www.die-bibel.de/online-bibeln/einheitsuebersetzung/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/50/100001/109999/ch/5080911eb9a6f31501fd23c21609bd73/
   DIR [14] http://islam.de/13827.php?sura=3
   DIR [15] /!119631/
   DIR [16] /!146542/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Deniz Yücel
       
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