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       # taz.de -- Zukunft des Berghain: Wollüstige Energie
       
       > Wird der Berliner Club Berghain seinen weltweiten Ruhm überleben? Oder
       > zieht es ihn nach zehn Jahren nun in den Mainstream?
       
   IMG Bild: Das sieht schon ein wenig nach Mainstream aus ...
       
       Wenn man sich in Berlin auf etwas einigen kann, dann ist es Unmut über
       jeden weiteren Artikel zum Berghain, den weltberühmten Club für
       elektronische Tanzmusik, der die Stadt erstrahlen lässt und sie mit seinem
       Image gleichzeitig zu überschatten droht.
       
       Und doch, der zehnte Geburtstag des Hedonismustempels fand ein
       internationales Presseecho, das bisher nur dem New Yorker Studio 54 oder
       dem Viper Room in Los Angeles beschieden war. Aber während diese Clubs
       durch ihre illustre Stammkundschaft berühmt wurden, bleiben gelegentliche
       prominente Berghain-Besucher schrullige Staffage – die Attraktion ist immer
       der Club selbst.
       
       Allen, die noch nicht im Berghain waren, sei gesagt: Die Geschichten
       darüber treffen meistens zu. Im günstigsten Fall ändert sich der
       Bewusstseinszustand schon beim Betreten der abgedunkelten, von einem
       überwältigenden Funktion-One-Soundsystem beschallten Tanzfläche. Drogen
       sind da völlig unnötig. Ganz offensichtlich wurde gründlich darüber
       nachgedacht, was es zu einem angenehmen Aufenthalt in einem Club braucht.
       Und sei es, dass, egal zu welcher Uhrzeit, auf den Klos Toilettenpapier
       vorhanden ist, kostenlos Ohrstöpsel verteilt werden oder das
       Securitypersonal unsichtbar bleibt.
       
       ## Sinnliche Energie
       
       Wer es geschafft hat, am Türsteher vorbeizukommen, fühlt sich zu etwas
       zugehörig und nicht wie eine Weihnachtsgans, die ausgenommen werden soll.
       Es stimmt auch, dass das gesamte Setting ungehemmtem Benehmen Vorschub
       leistet. Eine wollüstige, sinnliche Energie durchströmt den Raum, die aber,
       aus meiner Sicht als zierliche Frau, niemals unangenehm wird. Im Berghain
       fühlt man sich sicher – im Gegensatz zum Londoner Technoclub Fabric, in dem
       sich die Betreiber genötigt sahen, „Angrapschen verboten“-Schilder
       aufzuhängen.
       
       Das liegt natürlich auch daran, dass das Berghain viele schwule Besucher
       hat. Ohnehin ist es ein gutes Beispiel dafür, wie stark die kulturelle
       Landschaft Berlins von der Gay Community geprägt ist. Das
       Berghain-Unternehmen, zu dem auch die Panorama Bar und die neben dem
       Hauptgebäude gelegene Kantine sowie eine Plattenfirma und eine
       Bookingagentur gehören, wird von zwei dem Vernehmen nach homosexuellen
       Männern geführt, Norbert Thormann und Michael Teufele. Zugegebenermaßen
       trägt auch die rabiate Türpolitik des inzwischen berüchtigten Türstehers
       Sven Marquardt dazu bei, dass es im Club respektvoll zugeht.
       
       Der 52-Jährige wuchs als schwuler Punk in Ostberlin auf, arbeitete als
       Fotograf (unter anderem für die Modemarke Hugo Boss) und hat inzwischen
       seine Autobiografie „Die Nacht ist Leben“ veröffentlicht. Er ist der
       einzige, der regelmäßig mit der Presse in Kontakt tritt. Thormann und
       Teufele geben grundsätzlich keine Interviews, und auch die anderen
       Angestellten sprechen nicht mit den Medien, was Marquardt zum Sprachrohr
       der Organisation macht.
       
       Seine Stellung als inoffizielles Berghain-Maskottchen, sein Aussehen und
       seine Haltung, gepaart mit dem Berghain-Sound, transportieren ein
       spezielles Image: nicht stereotyp schwul (nicht queer, die Schwulen im
       Berghain sind sehr männlich), antibürgerlich, knallhart und unerreicht
       cool.
       
       ## Eher dogmatisch als elitär
       
       Was den Sound anbelangt: Während der normalen Öffnungszeiten, also von
       Freitagnacht bis Montagmorgen, wird der Club von einem besonders finsteren,
       stampfenden, Post-Industrial-4-to-the-Floor-Techno beschallt. DJs und
       Produzenten wie die Berghain-Residents Ben Klock und Marcel Dettmann tragen
       verstärkt dazu bei, dass dieser Sound sofort mit dem Club assoziiert wird.
       Sie exportieren ihn mittels des Labels Ostgut Ton und der gleichnamigen
       Bookingagentur in die ganze Welt. Wenn Schwulsein kein kulturelles
       Gebrauchsgut ist, Techno ist es.
       
       Mit steigender Nachfrage; das ausländische Publikum ist zunehmend damit
       vertraut. Während es im Interesse des Berghain liegt, diesen Sound zu
       pflegen, ist er unter musikalischen Gesichtspunkten eher konservativ. Egal
       wen man fragt, ob Besucher oder Booker, das Feedback ist eher dogmatisch
       als elitär.
       
       Ein Vorfall an einem Abend, an dem vor Kurzem erst der New Yorker Ron
       Morelli und dann der Brite Lee Gamble – beides tolle DJs – in der Panorama
       Bar auflegten, illustriert das sehr schön. Die Panorama Bar ist ein kleiner
       Raum über dem Club, in dem nicht Techno, sondern House aufgelegt wird. Als
       einer der beiden einen Track mit einem Breakbeat spielte, leerte sich die
       Tanzfläche augenblicklich.
       
       Nun wohnt dem Technosound, für den das Berghain berühmt ist, zwar ein
       gewisser musikalischer Konservatismus inne. Doch in dem meist von externen
       Veranstaltern konzipierten und promoteten Konzert- und Eventprogramm werden
       viele andere Arten von Musik geboten und unterstützt, was zeigt, dass das
       Berghain offen für Innovationen ist. Zudem ist es ein Beleg dafür, dass dem
       Club mehr als eine ganz spezielle Technorichtung wichtig ist.
       
       Heikel wird es nur, wenn ausgesprochene Musikliebhaber extra von weit her
       anreisen, um einen ihrer Lieblingskünstler in den heiligen Hallen des
       Berghain zu hören, und fürchten müssen, an der Tür abgewiesen zu werden.
       Das ist ein Manko für einen Ort, an dem Musik so stark im Vordergrund
       steht.
       
       Leute, die hauptsächlich wegen der Musik in Clubs gehen – und
       selbstverständlich sind im besten Technoclub der Welt einige von ihnen
       anzutreffen –, könnten sich in einer typischen Nacht im Berghain alsbald
       ein wenig langweilen und den hauseigenen Technosound als Fließbandmusik
       empfinden. Aber es gibt genügend Gäste, für die der Besuch des Berghain ein
       Ausdruck von Lebensstil ist, und der Club steht für einen Lebensstil
       genauso wie für seine Musik.
       
       ## Viele Kulturvoyeure
       
       Neben den Musikliebhabern und Lifestyleclubbern gibt es noch diejenigen,
       die sich nach etwas Verlässlichem oder gar Vorhersehbarem sehnen.
       Inzwischen kommen noch die immer zahlreicheren Kulturvoyeure dazu, Motten,
       die vom Licht der Aufmerksamkeit angezogen werden. Die Warteschlange vor
       der Tür – insbesondere für die „Ostgut Ton Nacht“, in der fast nur
       Residents, die ohnehin an jedem Wochenende auflegen, an den Plattentellern
       stehen – erstreckt sich immer öfter immer weiter den langen Pfad entlang,
       der sich von der Eingangstür bis zur Straße erstreckt.
       
       Und wenn so viele Leute gar nicht der Musik wegen Einlass begehren, dann
       sind sie zumindest wegen des angekündigten (und tatsächlich auf
       Hugo-Boss-T-Shirts beworbenen) Ethos gekommen. Oder zumindest aus Neugier.
       Die mediale Aufmerksamkeit ist normalerweise ein Zeichen dafür, dass das
       heiße Eisen langsam abkühlt, dass ein Club vereinnahmt ist von einem
       Mainstream, an den er sich nie gerichtet hat. Dabei muss man sich immer
       wieder vor Augen halten, dass die Betreiber bisher unabhängig geblieben
       sind.
       
       Sie haben jegliche Form von Unterstützung, sei es vonseiten des Berliner
       Senats oder von Wirtschaftsunternehmen, stets abgelehnt. Der Erfolg der
       Berghain-Betreiber ist Resultat ihrer eigenen Vision, ihrer Prinzipientreue
       und harter Arbeit. Aber sie werden noch härter arbeiten müssen, um zu
       bewahren, was das Berghain so einzigartig gemacht hat. Allein dadurch, dass
       so viele Leute abgewiesen werden, empfinden sich die Eingelassenen als
       etwas ganz Besonderes. Wird aber das Innere des Clubs alle Touristen in
       Auserwählte verwandeln können? Das wird die Herausforderung für die
       nächsten zehn Jahre sein.
       
       Aus dem Englischen von Sylvia Prahl
       
       31 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lisa Blanning
       
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