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       # taz.de -- Mail aus Jerusalem, Teil 2: Die Suche
       
       > Angst vor der Zukunft und Sprachlosigkeit sind in Jerusalem
       > allgegenwärtig? Was hilft dagegen? Sich einfach mal wegträumen?
       
   IMG Bild: Fotoarbeit von Eduardo Soteras, Teil der Ausstellung Recounting of Past, Present and Future.
       
       Die Nachbarn sind noch in ihrem Garten. Es ist ungewöhnlich warm für Anfang
       Oktober in Ramallah. Sie haben es sich richtig nett gemacht. Von unserem
       Küchenfenster aus können wir ihren Garten gut übersehen. Buchsbäumchen,
       Fuchsien, dazwischen kleine Leuchten, die den Garten in Pink und Himmelblau
       tauchen. Sogar eine Rasenfläche ist ausgelegt worden. Normalerweise wird
       weniger in den Garten als in die Wohnung investiert.
       
       Leichtes Geplauder klingt herüber und Kinderrufe. Ich sitze an meinem
       Schreibplatz und versuche meine Gedanken zur kollektiven Erinnerungskultur
       im Allgemeinen und im Speziellen in Palästina aufs Papier zu bringen. Aber
       es gelingt mir nicht. Meine Gedanken schweifen ab und verfangen sich
       irgendwo zwischen Gaza, Jerusalem und Berlin.
       
       In den letzten Tagen habe ich mit meinen Kollegen viele Interviews
       durchgeführt. Interviews mit palästinensischen Kulturschaffenden auf der
       Suche nach dem großen „Wo stehen wir gerade und wie geht es weiter – in der
       Kunst und in der Politik, wie weiter nach all dem Grauen“. Die
       Sprachlosigkeit ist der größte gemeinsame Nenner. Weitermachen ist auch
       eine Art Widerstand, sagen die einen. Entschleunigung und Zeit zum
       Nachdenken in Anspruch zu nehmen auch, behaupten die anderen.
       
       Im Kopf ist mir aber die Aussage eines Urgesteins der Kunstszene geblieben.
       „Wenn ich in die Zukunft blicke, habe ich Angst. Angst, weil ich nicht mehr
       verstehe, was hier und in unserer Region allgemein passiert. Meine
       Koordinaten passen nicht mehr. Die Gewalt, von der wir umgeben sind,
       überdeckt jeden Gedanken. Ich fühl mich, als ob ich noch mal vorn vorne
       anfangen muss, lese mich in neuen Stoff ein, um zu verstehen.“
       
       ## „Wir stehen an einer Kreuzung“
       
       Seine Gemälde stehen angelehnt an der Wand, wir sind in seinem Studio und
       trinken Tee. Auch wenn die Inhalte der Gespräche es nicht vermuten lassen,
       geht es uns danach doch etwas besser. Vielleicht, weil ein Schritt aus der
       Sprachlosigkeit gemeistert wurde. „Wir sind in einer interessanten Zeit“,
       sagt meine zweite Interviewpartnerin fast enthusiastisch, „einer
       entscheidenden, und wir stehen an einer Kreuzung, auch wenn wir die Wege
       noch nicht erkennen. Es muss sich etwas ändern.“
       
       Auf dem alltäglichen Weg nach Jerusalem scheinen sich die israelischen
       Soldaten heute zu langweilen, denn ich werde nach meiner Herkunft
       ausgefragt, statt einfach nur durch gewinkt zu werden. Erzwungene
       Plauderstunde am Checkpoint, oft habe ich daran gedacht, diese täglichen
       Begegnungen aufzuschreiben. Vielleicht geben sie dann einen Sinn.
       „Bremen?“, dabei macht er ein sehr angestrengtes Gesicht, wie jemand, der
       versucht sich zu erinnern. „Werder Bremen, football“, helfe ich ihm auf die
       Sprünge. „I was in Freiburg!“, kommt mit einem Strahlen zurück. Toll für
       dich, denk ich, und er gibt eine Probe seiner Deutschkenntnisse: „Ich bin
       glücklich.“
       
       ## Die jungen Israelis wandern ab
       
       Ein junger israelischer Soldat mit verzücktem Gesicht, wenn er an Freiburg
       denkt, das passt nun so gar nicht in die offizielle Erinnerungskultur
       Israels. Ich muss an den Artikel in der Ha’aretz denken, der über die
       Abwanderung junger Israelis nach Berlin berichtet. 10.000 sind es
       offiziell. Die israelische Regierung hat eine Dringlichkeitssitzung
       ausgerufen, dringlicher als die weiterführenden Gespräche mit der Hamas.
       
       Draußen ist es inzwischen still geworden und ich verschiebe meine
       Vortragsvorbereitung auf morgen. Berlin, Gaza und Jerusalem rufe ich in
       meinem Kopf zur Ruhe auf und beschließe, mit Martin Suters Buch
       „Abschalten“ ins Bett zu gehen.
       
       In zwei Wochen eröffnen wir unsere Ausstellung „Recounting of Past, Present
       and Future“ während der Kunstbiennale Qalandiya International in Ramallah
       und Jerusalem. Als Antwort auf die Sprachlosigkeit? Vielleicht. Das bleibt
       Ansichtssache. Ich sehe es eher als Mittel zum Zweck auf der Suche, die
       alles umfasst. Eine meiner Wahrheiten, die ich vielleicht mit vielen in
       diesem Land teile. Auch wenn die Realität eine andere ist.
       
       1 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alia Rayyan
       
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