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       # taz.de -- Debatte Sanktionen: Orbán ist nicht Ungarn
       
       > Ungarns politische Landschaft wird oft falsch dargestellt. Statt
       > Alternativen werden hauptsächlich Neoliberale hofiert. Sanktionen träfen
       > nur die Ärmsten.
       
   IMG Bild: So mag er es: Viktor Orbán zeigt sich gern mit nationalen Symbolen.
       
       Mit Viktor Orbán verhalte es sich so wie mit Wladimir Putin oder, noch
       besser, Recep Tayyip Erdogan. Deshalb müsse die EU Sanktionen gegen Ungarn
       verhängen, so wie gegen Russland. Zumindest ist das die Meinung von Andrea
       Seibel, stellvertretender Chefredakteurin der Welt. 
       
       Nehmen wir einmal an, die EU verhänge Sanktionen gegen Ungarn. Die
       Meldungen der ungarischen Nachrichtenagentur würden ohne Zweifel am
       nächsten Tag so ausfallen: „Ungarn lässt sich nicht von Brüssel erpressen!“
       
       Unter der Empfehlung von Andrea Seibel würde nur das 12-jährige
       Roma-Mädchen vom ostungarischen Dorf und István, der 50-jährige Busfahrer,
       der in einer Wohnsiedlung in Süd-Budapest wohnt, leiden. Orbán und seine
       bürgerliche Elite träfen die Sanktionen nicht, im Gegenteil, sie würden sie
       nur für Propagandazwecke nutzen.
       
       Trotzdem sollten Berlin und Brüssel ihren Einfluss gegen die autoritären
       Tendenzen der nationalistisch-konservativen Fidesz-Regierung geltend
       machen. Und berücksichtigen: Viktor Orbán und die Ungarn sind, wie man im
       Land der Magyaren zu sagen pflegt, nicht „eins und unteilbar“. Orbán selbst
       ignoriert diese Differenz oft genug. Wenn im Europäischen Parlament die
       Gesetze der ungarischen Regierung kritisiert werden, spricht der
       Regierungssprecher in Budapest am nächsten Tag von einem Angriff auf das
       ungarische Volk.
       
       ## Nur ein Fünftel hat Orbán gewählt
       
       Die Regierungspartei Fidesz hat im Jahr 2014 zum zweiten Mal im ungarischen
       Parlament eine Zweidrittelmehrheit bekommen. Es hilft vielleicht zu wissen,
       dass Fidesz bei jedem Wahlgang kaum mehr als 2 Millionen Stimmen erhalten
       hat. Jedes Mal haben nur knapp 5 Millionen Ungarn teilgenommen: 61 Prozent
       der Wahlberechtigten. Lediglich ein Fünftel der Wahlberechtigten haben
       damit Fidesz gewählt.
       
       Diese Wahllethargie ist verständlich, die ungarische Parteienpalette
       enthält nämlich nicht alle Farben. Von Pécs bis Debrecen wählt der
       Durchschnittsungar entweder Fidesz oder die rechtsextremistische
       Jobbik-Partei, die sich inzwischen als zweitstärkste Kraft etabliert hat.
       
       Die liberalen Parteien, die vor 2010 noch die Regierung stellten und in der
       deutschen Öffentlichkeit als Retter Ungarns gefeiert werden, stellen für
       die Menschen im Land selbst keine ernsthafte Alternative dar. Die
       Staatsmänner von damals versprechen heute eine neue Ära. Aber sie sind für
       die desolate Wirtschaftslage, die Fidesz überhaupt erst zur Macht verhalf,
       verantwortlich. Ihre Wählerbasis besteht fast nur noch aus
       Hauptstadtintellektuellen.
       
       ## Politische Inkompetenz der Elite
       
       Statt Sanktionen gegen die amtierende Regierung anzustrengen und sich
       gleichzeitig auf die ehemalige Regierung zu beziehen, wäre mehr
       Öffentlichkeit für eine glaubwürdige politische Alternative in Ungarn
       angebracht. Die neuen Gruppierungen (wie sie sich dieser Tage im Zuge der
       Proteste gegen die Internetsteuer auch einmal zeigen) brauchen nämlich
       dringend mehr Öffentlichkeit. Diese würde ihnen mehr Glaubwürdigkeit in
       Ungarn verschaffen, und die deutschen Leser würden mit einem anderen Blick
       gen Südosten schauen.
       
       Als ich vor einem Jahr nach Deutschland gezogen bin, musste ich schnell
       feststellen, dass die deutsche Öffentlichkeit die politische Szene in
       Ungarn nicht realistisch betrachtet. Die sich links nennende Jungle World
       führt beispielsweise ausführliche Interviews mit dem neoliberalen
       Ex-Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány und stellt ihn als Orbáns
       Herausforderer und Hauptkonkurrenten dar. Dabei genießt seine Partei
       „Demokratische Koalition“ die Unterstützung von höchstens 5 Prozent der
       Wählerschaft. Von der Größenordnung her eine ungarische FDP also.
       
       Die in Deutschland zu Recht respektierten ungarischen Intellektuellen wie
       der Autor György Konrád oder die Philosophin Ágnes Heller sind heute in
       linken Budapester Kreisen Symbole für die politische Inkompetenz der Elite.
       Sie waren die größten Befürworter der gemeinsamen Wahlliste der
       „Sozialisten“ und der liberalen Parteien, doch die ungarischen Wähler
       erteilten dieser Strategie eine Absage.
       
       Diese Kooperation von „Linken“ und Neoliberalen führte auch zur
       Oberbürgermeisterkandidatur von Lajos Bokros. Der wiederum ist ein
       neoliberaler Ökonom, der unter dem roten Schirm so tun durfte, als sei er
       die einzig wahre Alternative. Die Budapester aber sahen, wo der Haken ist:
       Bokros ist der Schützling von Konrád.
       
       Bokros saß zwischen 2009 und 2014 im Europäischen Parlament in der Fraktion
       der „Europäischen Konservativen und Reformisten“. Heute sind die sieben
       Europaabgeordneten der „Alternativen für Deutschland“ (AfD) Teil dieser
       Fraktion. Die deutschen Medien mögen Konrád und Heller als Helden der
       ungarischen Politik darstellen – aber vergessen wir nicht: Damit
       unterstützen wir letztendlich die ungarischen Genossen der AfD.
       
       ## Alternativen sind erkennbar
       
       Aber es gibt auch eine tatsächliche politische Alternative: die
       systemkritische grüne LMP (Abkürzung für „die Politik könnte anders sein“)
       und die sozialdemokratische 4K!-Partei (Partei der vierten Republik). Die
       LMP wurde 2009 von Aktivisten aus unterschiedlichen
       Nichtregierungsorganisationen gegründet und stellt fünf Abgeordnete im
       Parlament, die 4K!-Partei entstand drei Jahre später und konnte immerhin
       bescheidene Fortschritte bei den Kommunalwahlen erzielen. Ihre Politik ist
       ein sehr, bisweilen zu vorsichtiger Versuch, Themen wie soziale
       Gerechtigkeit oder den Kampf gegen elitäre Korruption auf die Agenda zu
       setzen. Trotzdem sind sie den meisten Ungarn noch unbekannt.
       
       Den extremistischen Parolen konnten die Newcomer bisher nicht genug
       entgegensetzen. Die Kapitalismuskritik von rechts, die von Jobbik bedient
       wird, stellt für LMP und 4K! eine echte Herausforderung dar. Ohne
       paramilitärische Inszenierungen, wie sie Jobbik regelmäßig feiert, wird ein
       Wahlkampf, der sich auf Inhalte konzentriert, ein schwieriges Unterfangen.
       
       Während aber die liberalen Oppositionsparteien in ihren Programmen das Wort
       Armut vermeiden, könnte die neue Linke eine Chance für die 3 Millionen
       Ungarn sein, die monatlich von weniger als 215 Euro leben müssen. Die
       Ungarn also, die am meisten von den Sanktionen betroffen wären.
       
       30 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Armin Langer
       
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