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       # taz.de -- „Euthanasie“ in bayerischer Klinik: Vor dem Vergessen bewahrt
       
       > Eine Klinik muss sich ihrer Rolle beim Massenmord an Kranken und
       > Behinderten unter dem NS-Regime stellen. Nun gibt es ein Denkmal für die
       > 1.366 Opfer.
       
   IMG Bild: Heute wäre Paul Hoh lernbehindert, in den 1930er-Jahren war er „schwachsinnig“ – es war sein Todesurteil.
       
       MAINKOFEN taz | Gerhard Schneider wuchs direkt neben der Psychiatrie
       Mainkofen in Niederbayern auf. Das Klinikgelände ist ein kleines Dorf, es
       war sein Spielplatz: Er planschte am Springbrunnen, tobte vorbei an der
       Kirche und den weißen Jugendstilhäusern. Als er 1981 als
       Verwaltungsangestellter dort anfing, war Mainkofen für ihn nur eines: die
       fortschrittliche Reformklinik, in der Patienten schon 1911 nicht wie
       Gefangene lebten. Bald entdeckte er jedoch, was es noch war: eine
       Tötungsanstalt.
       
       Schneider, ein Mann mit hellblauen Augen, ist heute Verwaltungsdirektor der
       Klinik und kann jedem zeigen, wo diese jahrzehntelang ihre Vergangenheit
       versteckte: in den „Katakomben von Mainkofen“. Stickige Heizungskellerluft
       vermischt sich hier mit dem Geruch von Moder. Schneider öffnet eine Tür:
       Berge von vergilbten Akten, 1933 bis 1945.
       
       Sie erzählen die Geschichte von fast 1.400 Morden. Schneider öffnet eine
       Mappe, streicht über das Foto eines Jungen, wache Augen, geschorener Kopf.
       „Seine Geschichte hat mich besonders berührt“, sagt Schneider.
       
       Paul Hoh wurde 1917 bei Hamburg geboren. Er liebte das Grammophon und
       trällerte gern Schlager. Mit Lesen und Schreiben tat er sich schwer. Heute
       würde man sagen, Paul war lernbehindert. Im Jahr 1930 war er
       „schwachsinnig“. Es sollte sein Todesurteil sein.
       
       Mit 13 kam er in die Heilanstalt Alsterdorf. Paul war immer „fröhlich und
       vergnügt“, vermerkten die dortigen Pfleger. Drei Jahre nachdem Adolf Hitler
       an die Macht gekommen war, änderten sie ihr Urteil. Plötzlich ist der Junge
       „faul“, einer, der zur „Durchseuchung unseres Volkes mit krankem Erbgut“
       beiträgt.
       
       ## „Vernichtung lebensunwerten Lebens“
       
       Im Jahr 1943 sitzt Paul, der jetzt 26 Jahre alt und körperlich völlig
       gesund ist, zusammen mit 112 anderen Menschen in einem grauen Bus. Ihr
       Ziel: Mainkofen. Nach einem Jahr ist er tot. Lungentuberkulose, heißt es.
       Nach allem, was man heute weiß, ist Paul Hoh jedoch verhungert.
       
       „Die Vernichtung lebensunwerten Lebens“ wurde schon in den 1920ern von
       Psychiatern diskutiert. Der Soziologe Götz Aly zitiert eine nicht
       repräsentative Befragung von Eltern aus dieser Zeit. 73 Prozent gaben an,
       sie würden der „schmerzlosen Abkürzung des Lebens“ ihres Kindes zustimmen,
       wenn es „unheilbar blöd“ sei.
       
       Unter Hitler begann der staatlich organisierte Massenmord an Kranken,
       Behinderten und Alten. Eine Kommission aus Psychiatern und Ärzten
       entschied, wer ein „unnützer Esser“ war. Mehr als 70.000 Männer, Frauen und
       Kinder wurden zwischen 1940 und 1941 in sechs „reichsdeutschen“
       Tötungsanstalten vergast.
       
       Als die Kritik in der Bevölkerung an dieser Praxis wuchs, stoppte Hitler
       1941 die Todestransporte. Das Morden aber ging weiter, etwas leiser, etwa
       durch Giftspritzen. In Bayern erfanden Ärzte die 3B-Kost: Patienten bekamen
       nichts als in Wasser gekochtes Gemüse. Nach spätestens sechs Wochen waren
       sie tot.
       
       Falls nach 1945 gegen Ärzte oder Psychiater ermittelt wurde, endeten alle
       Verhandlungen mit Freisprüchen oder geringen Strafen. „Jahrzehntelang wurde
       die „Euthanasie“-Geschichte aktiv beschwiegen“, sagt Michael Wunder, der
       Gedenkstätten wissenschaftlich berät. Erst in den 1980ern begann die
       Aufarbeitung. Mittlerweile sind alle früheren Gasmordanstalten von Hadamar
       bis Hartheim Erinnerungsorte. Auch in vielen Psychiatrien wird heute der
       „Euthanasie“ gedacht. „Mainkofen ist extrem spät dran“, sagt Wunder.
       
       ## Ein kleines Wunder
       
       Fast 70 Jahre erinnerte in Mainkofen nichts an die 1.366 Männer, Frauen und
       Kinder, die hier wie Paul Hoh verhungerten oder in Hartheim, der
       nächstgelegenen Tötungsanstalt, vergast wurden. Es ist fast ein kleines
       Wunder, dass nun eine Gedenkstätte für sie eingeweiht wurde. Und es ist das
       Verdienst eines Bayern und einer Hamburgerin, die nicht aufhörten, gegen
       die Mauer des Schweigens anzurennen. Die Geschichte ihres Kampfes führt
       zurück in die dunklen Kellerräume von Mainkofen. Und zu Gerhard Schneider,
       dem Bayern und damaligen Verwaltungsangestellten der Klinik.
       
       Vor 32 Jahren stand Schneider hier und kopierte Unterlagen. Dabei fiel sein
       Blick auf einen Haufen vergilbter Blätter in einem Container. Sie sollten
       im Kesselhaus der Anstalt verbrannt werden. Schneider nahm sich ein paar
       Blätter, las von Erbgericht und Zwangssterilisationen. „Mir war klar, dass
       die Akten nicht aus Zufall im Abfallcontainer liegen“, sagt er. Ihm war
       auch klar, dass er seinen Job riskierte, wenn er sie rettete.
       
       Schneider kannte die Antworten der Klinikleitung, wenn Angehörige wissen
       wollten, wie ihre Verwandten dort gestorben waren. Immer hieß es, es gebe
       keine Akten. Dieselbe Lüge wurde dem bayerischen Staatsarchiv aufgetischt.
       Außerdem sei in Mainkofen nicht getötet worden. „Ich las aber etwas ganz
       anderes“, sagt Schneider.
       
       ## 12.000 Akten versteckt
       
       Heimlich versteckte er über 12.000 Akten in der Sakristei unter der
       Klinikkirche. Abends wertete er sie aus, rekonstruierte die
       Todestransporte, die „Hungerkost“. Ende der 90er dachte Schneider, jetzt
       ist es so weit: Die bayerischen Bezirke planten ein Buch über Psychiatrien
       in der NS-Zeit. Mit dem Artikel über Mainkofen beauftragte die
       Klinikleitung eine Ärztin, die keine Ahnung vom Thema hatte. „Absichtlich“,
       meint Schneider. Als er ihr Hilfe anbot, sagte sie: „Ich habe Kontaktverbot
       mit Ihnen.“
       
       Erst 2002, unter einer neuen Klinikleitung, konnte Schneider offen forschen
       – in seiner Freizeit, versteht sich, ohne Entlohnung. Dennoch thematisierte
       die Klinik ihre Geschichte kaum. Dann hieß es auf der Homepage, Mainkofen
       habe die sogenannte Hungerkost „möglichst umgangen“ – eine glatte Lüge.
       
       Auch die Mainkofener selbst scheinen die Wahrheit nicht gerne zu hören. Im
       Jahr 2010 spricht Schneider im Radio über den Arzt Karl Brettner. Brettner
       war für Hunderte Zwangssterilisationen in der Klinik verantwortlich.
       Strafrechtlich verfolgt wurde er nicht. Im Gegenteil: Er bekam den
       Ehrenbrief von der Stadt, eine Straße wurde nach ihm benannt. Schneider
       hingegen wurde als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. Die Klinik ist der größte
       Arbeitgeber vor Ort. Nichts soll die weißen Ärztekittel verunreinigen.
       
       ## „Hungerkost“
       
       Bis im April 2011 eine Hamburgerin nach Mainkofen reist: Karen
       Haubenreisser. Ihr Vater war einer der Angehörigen, denen in den 80ern
       gesagt wurde, es sei nichts gewesen. Eine Zeitzeugin erinnert sich, wie er
       mit Tränen in den Augen über das Gelände lief, in der Hand ein Foto von
       einem kleinen Kind im Schnee: sein Bruder Rolf. Auch er bekam die
       „Hungerkost“, kurz vor seinem zehnten Geburtstag starb er und wurde auf dem
       Klinikfriedhof begraben.
       
       2011, mehr als 60 Jahre später, steht Karen Haubenreisser auf eben diesem
       Friedhof. Verwilderte Gräber, umgeworfene Grabsteine, die Hälfte der Fläche
       ist heute ein Park. Nichts erinnert an ihren Onkel. „Ich war fassungslos“,
       sagt Haubenreisser. Sie forderte die Klinikleitung auf, eine öffentliche
       Gedenkstätte aus dem Friedhof zu machen. Nie wieder sollten Angehörige vor
       verschlossener Tür stehen, jedes Opfer sollte mit Namen genannt sein. Was
       folgte, war ein „dreijähriges Ringen“ von Vergessen gegen Gedenken.
       
       Zuerst antwortete ihr die Klinik gar nicht. Und auch, als man bereits im
       Gespräch war, brauchte es Zeitungsartikel und die Briefe etlicher
       Angehöriger, bis sich Klinikleitung und Politik durchrangen, doch an die
       Todesopfer von Mainkofen zu erinnern.
       
       Karen Haubenreisser ist zufrieden - das Denkmal ist so geworden, wie sie es
       sich gewünscht hat. Allerdings musste sie in jahrelanger Arbeit selbst
       versuchen, weitere Angehörige von Opfern zu finden. Und auch für die
       Einweihung des Denkmals in dieser Woche hätten Klinik und Politik sich
       nicht sonderlich um eine große Öffentlichkeit bemüht. „Es wäre
       wünschenswert gewesen", sagt Haubenreisser nun, "dass der Bezirk eine
       breitere Öffentlichkeit anspricht – auch um weitere Angehörige zu
       erreichen.“ Olaf Heinrich, Bezirkstagspräsident von Niederbayern, sagt, der
       Termin sei doch in den Zeitungen angekündigt worden.
       
       ## Eine schmerzhafte Suche
       
       Eva Ortmeier lebt rund 200 Kilometer von Mainkofen entfernt bei Rosenheim
       und hat die Artikel der niederbayerischen Lokalpresse nicht gelesen. Ihre
       Großtante Resi kam von Mainkofen in die Gasmordanstalt Hartheim. Von der
       Einweihung des Denkmals erfuhr Ortmeier nur über Umwege. Wie sie forschen
       immer mehr Deutsche nach ihren Angehörigen: Jeder Achte über 25 Jahren ist
       direkt verwandt mit einem „Euthanasie“-Opfer. Es ist oft eine schmerzhafte
       Suche.
       
       Viele fühlen sich schuldig. Hat die Familie ihren behinderten Verwandten
       vielleicht wirklich als „Makel“ angesehen, wie der Soziologe Aly nahelegt?
       Gerhard Schneider kann Alys These nicht bestätigen. Er fand fast
       ausschließlich Briefe von sich sorgenden, liebevollen Eltern in den Akten.
       Für Ortmeier war es „das größte Glück“, mit Schneider über ihre Großtante
       sprechen zu können. Deren Namen auf der Gedenktafel empfindet sie nun als
       „ein wenig Respekt“.
       
       Nur drei Kilometer weiter ein Straßenschild: Karl-Brettner-Straße, benannt
       nach dem Sterilisationsarzt. Schon lange hat die Stadt angekündigt, die
       Straße umbenennen zu wollen – passiert ist nichts. Gegenüber steht ein
       alter Mann in Jogginhose und Gummistiefeln hinter seinem Gartenzaun. Was er
       von der Gedenkstätte hält? Der Mann winkt ab: „Das interessiert hier doch
       niemanden“.
       
       29 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lisa Schnell
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Nationalsozialismus
   DIR Massenmord
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   DIR Worpswede
   DIR Schwerpunkt Überwachung
       
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