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       # taz.de -- Gymnasiallehrer über Hochschulreife: „Müssen wirklich alle studieren?“
       
       > Lehrer Heinz-Peter Meidinger fürchtet um die Qualität des Abiturs und um
       > das Niveau seiner Schulart, wenn der Anteil der Schüler dort weiter
       > steigt.
       
   IMG Bild: „Lernen ist immer damit verbunden, dass Sie 90 Prozent wieder vergessen."
       
       taz: Herr Meidinger, aktuell beginnen mehr Schulabgänger ein Studium als
       eine Lehre. Gibt es zu viele Abiturienten? 
       
       Heinz-Peter Meidinger: Ich glaube nicht, dass es zu viele Abiturienten
       gibt, aber zu viele, die nicht studierfähig sind. Wir führen mittlerweile
       50 Prozent zur Hochschulreife, aber die Qualität sinkt.
       
       Das kann man auch als Kritik am Gymnasium begreifen. 
       
       Das Gymnasium ist nicht in erster Linie betroffen. Es gibt mittlerweile
       viele Wege zum Abitur.
       
       Ein Plädoyer dafür, dass das Abitur exklusiv vom Gymnasium vergeben wird,
       andere Schularten sich auf niedrigere Abschlüsse beschränken? 
       
       Nein. Wir müssen größere Anstrengungen unternehmen, um Qualität und
       Vergleichbarkeit des Abiturs zu sichern und dafür sorgen, dass hinter der
       Studienberechtigung auch die Studienbefähigung steht.
       
       Sollen mehr Abiturienten in die Ausbildung gehen, wie
       Bundesbildungsministerin Johanna Wanka oder der Philosophieprofessor Julian
       Nida-Rümelin vorgeschlagen haben? 
       
       Der Vorschlag kommt ja nicht von ungefähr. Bei 30 bis 40 Prozent
       Studienabbrechern ist die Frage berechtigt, ob wirklich alle studieren
       müssen.
       
       Diese Frage richtet sich ja auch an Sie. Ist es noch berechtigt, dass die
       Gymnasien Schüler exklusiv für den Hochschulzugang vorbereiten und die
       berufliche Ausbildung ignorieren? 
       
       Natürlich ist allgemeine Studierfähigkeit unser Hauptziel. Uns
       interessieren aber auch die Jugendlichen, die nach der Mittleren Reife
       rausgehen oder am Gymnasium den Hauptschulabschluss erwerben. Die Gymnasien
       haben große Anstrengungen unternommen, die Berufsorientierung zu
       intensivieren.
       
       Das hört sich sehr nach Gesamtschule an. 
       
       Das Gymnasium steht in einem großen Spannungsverhältnis. Auf der einen
       Seite wird erwartet, dass es allgemeine Studierfähigkeit vermittelt und die
       Leistungsstarken besser fördert, auf der anderen Seite soll es mit der
       heterogener gewordenen Schülerschaft besser umgehen und mehr auf die
       Schwächeren eingehen. Dabei hat sich schon vieles verbessert. Vor zwanzig
       Jahren haben wir noch bis zu 40 Prozent der Schüler verloren, heute sind es
       nur noch 20 Prozent. Gleichzeitig geht ein immer größerer Anteil der
       Schüler aufs Gymnasium.
       
       Ist die Furcht begründet, dass das Gymnasium an Qualität verliert, wenn
       dort nicht mehr nur die Elite, sondern die Hälfte eines Jahrgangs
       unterrichtet wird? 
       
       Ja, diese Furcht ist begründet. Ich würde als Gymnasialvertreter natürlich
       gern das Hohelied aufs Gymnasium singen, aber in bestimmten Bereichen sehe
       ich Gefährdungen.
       
       Können Sie mal ein konkretes Beispiel aus Ihrem Unterricht als Deutsch- und
       Geschichtslehrer angeben? 
       
       Das muss man im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklungen sehen. Als Bub
       hat man Karl May gelesen, und in der Pubertät ist man dann irgendwann vom
       Lesen abgekommen, weil andere Dinge wichtiger waren. Aber man war im Lesen
       sozialisiert und hat es dann wiederentdeckt. Heute kriege ich viele Schüler
       gar nicht mehr zum Lesen. Es gibt mittlerweile Abiturienten, die gestehen,
       dass sie außer den Games-Handbüchern noch nie irgendein Buch gelesen haben.
       
       Das müssten sie aber laut Lehrplan? 
       
       Im Zuge der Einführung des achtjährigen Gymnasiums wurden die Lehrpläne
       entsprechend „entrümpelt.“ In einigen Bundesländern ist es im Zuge des G8
       ja sogar erlaubt, Teillektüren zu lesen – also nicht mehr das ganze Buch,
       sondern nur noch Kapitel daraus. Auch im Fach Geschichte ist viel aus den
       Lehrplänen gestrichen worden. In manchen Bundesländern hören die Schüler
       nichts mehr von der attischen Demokratie, obwohl dass die Geburtsstunde
       unserer Demokratie ist.
       
       Die attische Demokratie habe ich allerdings auch schon wieder vergessen. 
       
       Sie wissen aber, was gemeint ist. Lernen ist immer damit verbunden, dass
       Sie 90 Prozent wieder vergessen, das Entscheidende sind die 10 Prozent, die
       man behält und an die man neues Wissen andockt.
       
       Was haben Sie denn behalten? 
       
       Obwohl ich sogar einmal sitzen geblieben bin, ist schon einiges hängen
       geblieben. Zum Beispiel in Geschichte oder sogar von Latein, wo ich in der
       Mittelstufe gar nicht so gut war, auch von Wahlfächern wie dem
       Philosophiekurs. Schulische Fächer haben auch die Funktion eines späteren
       Türöffners. Wenn ich in der Schule nie Kunstunterricht hatte, werde ich
       mich auch als Erwachsener dafür kaum interessieren. Insgesamt gesehen
       bleibt mehr hängen, als man denkt; das merkt man dann, wenn man es wieder
       braucht.
       
       Eine Hoffnung, die Sie als Lehrer hegen? 
       
       Wenn ehemalige Schüler auch im späteren Leben Kontakt zu Lehrern halten,
       dann ja nicht, weil sie sagen: Das, was ich von Ihnen gelernt habe, habe
       ich im Proseminar toll gebrauchen können. Sie wenden sich eher an Lehrer,
       die für sie Vorbild waren, denen sie persönlich etwas verdanken.
       
       Beispielsweise gute Noten? Die Zensuren werden statistisch gesehen immer
       besser, in Bayern wurde die Note 1 vor zwei Jahren doppelt so häufig
       vergeben wie 2006. 
       
       Heute versucht sich die Bildungspolitik bei Reformen auch dadurch Akzeptanz
       zu verschaffen, dass sie für gute Noten sorgt. Das ist einfacher, als für
       gute Leistungen zu sorgen. In meinem eigenen Bundesland wurden im Zuge der
       Einführung des G8 die mündlichen Noten in der Oberstufe massiv aufgewertet.
       Da mündliche Noten gerade in Sprachen oft die besseren sind, hat es einen
       Bestnotenschub gegeben. Auch in NRW wurde die Akzeptanz des vor mehreren
       Jahren eingeführten Landeszentralabiturs durch bessere Noten und
       schülerfreundlichere Prüfungen gefördert.
       
       Man denkt, als Lehrer sagen Sie: Es liegt natürlich an uns Lehrern, dass
       der Unterricht besser geworden ist. 
       
       Ich möchte die Leistungen und Anstrengungen von Lehrern und Schülern nicht
       schmälern. Da wird schon Beachtliches geleistet. Aber dennoch sind die
       Schüler nicht in dem Maße besser geworden wie die Noten. Vor zwanzig Jahren
       erfüllte in Bayern ein Drittel der Schüler die Aufnahmekriterien fürs
       Gymnasium, heute die Hälfte. In vielen Bundesländern müssen Schulen die
       Durchfallquoten ihrer Abiturienten veröffentlichen. Da haben diese
       natürlich Interesse daran, dass nicht so viele durchfallen.
       
       Das ist doch gut. Wenn das schon früher so gewesen wäre, wären Sie
       vielleicht gar nicht sitzen geblieben? 
       
       Für mich war dies ja vielleicht auch der notwendige Schuss vor den Bug, ich
       habe ab diesem Zeitpunkt erkannt, dass ich für meine Leistungen selbst die
       Verantwortung trage. Aber die Politik geht heute einen anderen Weg. Sie
       investiert nicht in die individuelle Förderung, um die Leistungen zu
       verbessern, sondern sie bestimmt wie etwa in Hamburg, dass keiner mehr
       durchfallen darf. Notenlifting ist einfacher als Leistungssteigerung.
       
       Sie plädieren für die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium und ein
       zusätzliches Schuljahr. Wieso kommt Ihre Kritik am sogenannten G8 so spät? 
       
       Ich habe 2003 das G8 mit einführen müssen. Ich bin damals Schulleiter
       geworden, und natürlich geht man nicht rum und sagt „Sch…-G8“.
       Schulleitungen wollen ja, dass Eltern und Schülern zufrieden sind. Also
       haben wir alles dafür getan, dass das G8 nicht auf dem Rücken der Schüler
       eingeführt wird. Klar hat man gesehen, dass es hakt. Statt einer eigentlich
       notwendigen neurhythmisierten Ganztagsschule wurde der
       Nachmittagsunterricht einfach an den Vormittag angepappt.
       
       Was würden Sie heute anders machen? 
       
       Die Kernfrage lautet nicht G8 oder G9, sondern, was muss Schule heute
       Abiturienten vermitteln und wie viel Zeit braucht sie dafür. Und da sieht
       man, dass die Anforderungen gestiegen sind, wachsende
       Fremdsprachenkompetenz in Zeiten der Globalisierung, Wertevermittlung in
       einer Zeit zunehmender Heterogenität und Sinnkrisen, neben historischem
       auch mehr ökonomisches Wissen, Bewahrung der Menschheit und ihrer
       christlichen Schöpfungsgrundlagen.
       
       Was ist mit muslimischen Grundlagen? 
       
       Auch die Muslime wollen die Schöpfung bewahren. Was ich sagen will: Ein
       Gymnasium muss heute deutlich mehr leisten als früher.
       
       Das heißt, wir brauchen eigentlich ein G10 oder G11? 
       
       Ein gut gemachtes neunjähriges Gymnasium reicht. Wenn jemand – wie ich
       damals – ein Jahr länger braucht, dann sollte die Gesellschaft das aber
       kostenlos zur Verfügung stellen. Bildungszeit ist keine verlorene Zeit. Es
       gab überhaupt keinen inhaltlichen Grund, die Schulzeit zu verkürzen. Ich
       würde mir aber auch kein altes G9 wünschen.
       
       Sondern? 
       
       Die Einführung des G8 hat dem Ausbau der Ganztagsangebote einen Schub
       gegeben. Dieser Schwung hätte auch dem G9 gutgetan. Einige Dinge, die man
       dem Gymnasium vorhält, also zu wenig Projekte, der Mangel an
       fächerübergreifendem Unterricht, haben mit fehlenden Zeitfenstern zu tun.
       Ein neunjähriges Gymnasium darf kein Zurück zum alten G9 sein.
       
       In acht Jahren zum Abitur – das könnte ja auch das Alleinstellungsmerkmal
       der Gymnasien sein. Die anderen Schularten bieten das Abitur nach Klasse 13
       an. 
       
       Ich habe ein anderes Verständnis von Gymnasium. Der Unterschied zwischen
       Gymnasium und anderen Schularten ist nicht die Zeitdauer, sondern dass das
       Gymnasium einen eigenen umfassenden Bildungsauftrag hat mit einer
       Fächerbreite wie keine andere Schulart. Damit möchte ich aber die anderen
       Schularten nicht abwerten. Nicht für jeden ist das Gymnasium die selig
       machende Schule.
       
       30 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
       
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