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       # taz.de -- Documenta 2017: Sehnsucht nach Transformation
       
       > „Von Athen lernen“: Das ist der Titel der Documenta 2017. Ihr Kurator
       > will sie in Athen und Kassel ansiedeln, um die Perspektive zu wechseln.
       
   IMG Bild: Den Kotzia-Platz in Athen könnte 2017 mal was anderes als Herbstblumen schmücken.
       
       „Wir lassen uns unsere Documenta nicht wegnehmen!“ Der Aufschrei in der
       Kasseler Lokalpolitik klang wie das trotzige Motto der deutschen
       Nachkriegsrevanchisten: Zweigeteilt? Niemals! Allein aus diesem Grund war
       man versucht, dem Vorschlag Adam Szymczyks zuzustimmen, die Documenta des
       Jahres 2017 erst in Athen und dann in Kassel stattfinden zu lassen.
       
       Vor allem aber wegen dieses Ermüdungseffekts. Alle fünf Jahre wieder.
       Längst gleicht die Kasseler Schau einem lieb gewordenen Ritual, zu dem die
       Kunstwelt pilgert wie die prähistorischen Sonnenanbeter einst nach
       Stonehenge: um einen Kotau vor dem Wahren, Schönen, Guten abzulegen. Und um
       sich der Illusion hinzugeben, den definitiven Stand der Weltkunst schön
       übersichtlich auf dem Edelstahlteller einer nordhessischen Kleinstadt
       präsentiert zu bekommen. In einer Kunstwelt, die inzwischen fast 200
       Biennalen zählt, war die Diskussion über den Zweck dieser profanen Andacht
       überfällig. Fragt sich nur, ob gegen die Sinnkrise der Documenta ein Umzug
       hilft.
       
       Natürlich ist Athen, da hat der Kurator der Documenta 2017 recht, ein
       grelles Symbol für die Krise Europas: die asozialen Folgen des
       Börsencrashs, das Scheitern der politischen, ökonomischen und der
       bürokratischen Klasse, den Kollaps des Gemeinwesens. Doch was soll die
       Kunstwelt „Von Athen lernen“? So hat der Chefkurator seine Documenta
       genannt. Wie man eine Demokratie mit Ratingagenturen ruiniert? Wie man
       Straßenschlachten gegen die Spardiktate der EU-Troika organisiert? Wie
       Künstler ohne Alterssicherung überleben?
       
       Ganz neu ist der Versuch nicht, den hegemonialen Dreh- und Angelpunkt der
       internationalen Kunstwelt zu deterritorialisieren. Schon Okwui Enwezor,
       Kurator der Documenta 2002, war mit seinen „Plattformen“ in Wien, Berlin,
       Neu-Delhi, St. Lucia und Lagos der nordhessischen Provinz entflohen. Und
       Carolyn Christov-Bakargiev war mit ihrer Documenta vor zwei Jahren nach
       Alexandria am Nil, ins afghanische Kabul und ins kanadische Banff gezogen.
       
       ## Eine Geste der Solidarität
       
       Mit gutem Grund: Nicht erst mit der Globalisierung sind neue Zentren der
       Kunst in Afrika, Asien und im Nahen Osten entstanden. Das
       Repräsentationsbedürfnis jenseits der transatlantischen Moderne ist
       gewaltig. Streng genommen ist aber auch die Stadt in der nordhessischen
       Provinz eine Art Inkarnation von Peripherie. Doch wer das selbstgerechte
       Zentrum das Fürchten lehren will, sollte selbst auf regionale Diversität
       achten. Unter Szymczyks Kasseler Helfern findet sich keine einzige
       nichtweiße Kuratorin oder eine Kuratorin aus China, Afrika oder Asien.
       Selbst im Europäischen Parlament wäre der Erste Kurator mit dieser
       Mannschaft durchgefallen.
       
       Der Pole, der zehn Jahre in Basel gelebt hat, will mit dem Standort die
       Perspektive wechseln. Dabei hat es seinen Reiz, wenn sich alle fünf Jahre
       die Provinz anschickt, die Welt zu beeindrucken, all die großen Museen und
       Kunstmessen von New York bis Hongkong in den Rang zu verweisen. Natürlich
       ist nichts dagegen einzuwenden, die Kunstschau zum Ratschlag über die große
       Krise umzufunktionieren. Doch wenn Szymczyk sie als „aktives Werkzeug der
       Transformation“ beschwört, lauert dahinter die zwiespältige, in 100 mauen
       Biennalen rund um den Globus zu Tode gerittene Idee einer Kunst, die
       politisch und sozial „eingreift“, ohne je etwas an dieser schlechten Welt
       geändert zu haben.
       
       Ein temporärer Documenta-Umzug mag auch Griechenlands bedrohten
       Kulturinstitutionen ein paar Wochen lang Aufmerksamkeit bescheren.
       Letztlich läuft das Konzept auf eine politische Solidaritätsgeste statt auf
       ästhetische Inhalte hinaus. Und die entstehen – das ist der große Vorteil
       der Kunst – ortsunabhängig. „Das Leben ist anderswo“, des Documenta-Chefs
       Argument für die Reise nach Athen, bürdet dem Vorhaben die schwere Last
       auf, Zeitzeuge zu sein, wo Distanz ertragreicher sein könnte. Nichts ist
       falscher als die Idee, das Feuer, das die Welt verzehrt, ließe sich nur
       beschreiben, analysieren, gar löschen, wenn man mitten in ihm sitzt.
       
       Auf Arnold Bode, den Begründer des Kasseler Mythos kann sich Szymczyk bei
       seiner Idee nicht berufen. Wenn er die „neue Dringlichkeit“ der
       Gründungsidee der Documenta auf Athen projiziert, parallelisiert er zwei
       unterschiedliche Dinge.
       
       Bode ging es 1955 in Kassel um ästhetischen Wiederaufbau, er wollte das
       Nachkriegsdeutschland mit der von den Nazis als „entartet“ geschmähten
       Moderne und Avantgarde versöhnen. Das ist etwas anderes als der
       ökonomisch-soziale Wiederaufbau, der im krisengeschüttelten Griechenland
       jetzt so dringlich wäre. Die „großartigen Ruinen“ des Kasseler
       Fridericianums und der im Luftkrieg fast vollständig zerstörten Stadt waren
       Bode ein durchaus willkommenes Mittel zum pädagogischem Zweck.
       
       ## Ästhetischer Wiederaufbau
       
       Derlei ästhetische Entwicklungshilfe braucht Griechenland nicht. Und wenn,
       müsste der Impuls, sich am Kunstschopf aus dem Krisensumpf zu ziehen, dann
       nicht von innen kommen?
       
       „No Country For Young Men“ hieß eine engagierte Ausstellung, mit der die
       griechische Kuratorin Katerina Gregos in diesem Sommer nicht in Athen,
       sondern im Brüsseler Kunstpalast Bozar, die griechische Ratspräsidentschaft
       der EU herausforderte. Vielleicht sollte man diese Schau einfach auf
       Tournee um die Welt schicken. Dann kämen mehr Menschen in den Genuss der
       Erfahrung, um die es bei Großausstellungen im Kern geht: von der Kunst zu
       lernen.
       
       Natürlich. Manche von Szymczyks Argumenten sind Leckerbissen für
       Intellektuelle: Wer würde, wenn er der Documenta einen Rollenwechsel vom
       Gastgeber zum Gast verordnen will, nicht sofort an Jacques Derridas Thesen
       zu Gabe und Gastfreundschaft, Ökonomie und Zeit denken – das genaue
       Gegenteil der Politik, die die EU-Troika den Griechen oktroyierte?
       
       Wenn Szymczyk die „passive kulturelle Haltung“ beklagt, mit der heute Kunst
       konsumiert wird, wird er traditionell kulturkritisch. Und wenn der
       Documenta-Chef dieses große, leuchtende Bild „Documenta“ in zwei Bilder
       aufteilen will, die von den Medien und der Kulturindustrie nicht mehr so
       einfach instrumentalisiert werden können, verfällt er in die mittlerweile
       steril gewordene Klage über Débords „Gesellschaft des Spektakels“. Wie
       schwer das zu konterkarieren ist, zeigte die Documenta X. Mit ihrer
       widerständigen Schau generierte die große Malereiverweigerin Catherine
       David schon 1997 neue Kritik- und Besucherrekorde.
       
       Man fragt sich auch, was den Medienkritiker Szymczyk geritten hat, die
       große Documenta-Bombe jetzt schon zu zünden. Eigentlich passt es nicht zu
       dem zurückhaltenden und reflektierten Mann, dass er auf einen schönen
       Nebeneffekt geschielt haben könnte: maximale Aufmerksamkeit auf allen
       Kanälen, gute drei Jahre bevor die Schau beginnt.
       
       29 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ingo Arend
       
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