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       # taz.de -- Filmstart „Citizenfour“ in Leipzig: Snowden – still und groß
       
       > In Leipzig feiert Laura Poitras' Snowden-Film seine Deutschland-Premiere.
       > Es ist eine stille Beweisführung ohne Karamba und Männerkram.
       
   IMG Bild: Kommt noch nach Leipzig: Laura Poitras.
       
       LEIPZIG taz | Da musst Du ja jetzt kein Kulturmensch sein und auch kein
       Festivalbesucher, aber wenn in Berlin Berlinale ist, dann wirst Du ja fast
       schon in Potsdam zugeschissen mit diesen tausend roten Bären überall und
       hier, in Leipzig, kann es ganz schnell passieren, dass Du statt zur
       Premierenvorführung dann im Kino 2 bei den Turtles landest. Teenage Mutant
       Ninja Turtles, in 3D, läuft drüben und hier in Vorführraum 8 des
       Multiplex-Kinos feiert ein Film seine Deutschlandpremiere, der gleich, in
       aller Stille, eine Erschütterung begleitet.
       
       Die Dok Leipzig hat begonnen und mit „Citizenfour“, dem Film von Laura
       Poitras über das Überwachungsregime der USA und den Whistleblower Edward
       Snowden, soll das Festival pünktlich zum Abgang seines Leiters Claas
       Danielsen einen fulminanten Start zelebrieren. In der ersten Kino-Etage, am
       Popcorn-Schalter vor dem Eingang zum Kino 2 (Turtles), zählt ein Kassierer
       die Anzahl des Mandel-Eis in der blauen Gefrierbox nach, in der rechten
       Eis-Box ist eins zu viel, er trägt es hinüber in die linke Eis-Box, er
       sagt, jetzt sind es wieder gleich viele Mandel-Eis in jeder Box und eine
       Etage höher geht es auch um Überwachung.
       
       Edward Snowden steht ganz im Mittelpunkt dieses Filmes und dabei ist er
       doch eigentlich nur: eine Randerscheinung. Denn Cutterin Mathilde Bonnefoy
       und die Macherin Laura Poitras hatten bereits im Jahr 2012 mit den
       Schnittarbeiten zu ihrem Film begonnen – als weder die Welt noch die in
       Berlin lebende Poitras überhaupt von Snowden wussten.
       
       „Citizenfour“ ist der dritte Teil einer Trilogie, mit der Poitras [1][den
       Wandel der USA seit den Terrorangriffen vom 11. September 2001 beleuchtet.]
       Dann kam er also, der Informant, und was Laura Poitras aus ihm gemacht hat,
       wie sie ihn zeigt, dürfte doch eigentlich keine Überraschung mehr sein,
       oder? Sind die Integrität und zurückhaltende Freundlichkeit Edward Snowdens
       nicht längst zum Bestandteil einer kollektiven Erinnerung geworden? Glauben
       wir nicht alle längst, Snowden gut zu kennen?
       
       ## Zeuge seiner eigenen Geschichte
       
       Laura Poitras hat lange mit ihm in seinem Hotelzimmer in Hongkong gesessen,
       in das er sie eingeladen hat, als alles begann, und was ihren Film, der
       jetzt schon ein Dokument der Zeitgeschichte ist, besonders auszeichnet, ist
       seine stille Beweisführung, seine Zurückgenommenheit. Er dokumentiert den
       [2][wilden Veröffentlichungsdrang Glenn Greenwalds] und die Ironie eines
       Zeugen, der nur durch Zufall ebenfalls in Snowdens Hongkong-Stube sitzen
       durfte: [3][Ewen MacAskill, ein Gesandter,] den der Guardian den
       Enthüllungsjournalisten Poitras und Greenwald wie zum Hohn als Aufpasser
       zur Seite stellte.
       
       Es ist kostbar, dessen Unvermögen zu beobachten, sich Snowden zu nähern –
       und auch wenn vieles aus der Geschichte, die Poitras erzählt, naturgemäß
       bekannt ist, diese Details waren es schließlich nicht. Während die Herren
       Greenwald und MacAskill immer wieder hinauseilten und eine Weltgeschichte
       ihren Ausgang nahm, wurde Snowden, isoliert in seinem Hotelzimmer, zum
       Zeugen seiner eigenen Geschichte.
       
       Poitras blieb einfach bei ihm sitzen. Sie zeigt ihn im Bademantel auf
       seinem Bett, zeigt wie – nein: wie lange – er sich die Haare gelt und legt,
       zeigt eine Intimität, die zu der Geschichte gehört, die sie erzählt: die
       Preisgabe der Privatheit. Man kann Edward Snowdens Atem hören, mit ihm im
       Zimmer. Soweit. Dann aber, darüber hinaus, ist es die globale Beobachtung,
       die Anwesenheit von Poitras, die Snowdens Geschichte in ihrer Tiefe zeigt:
       eine Sitzung seines Anwaltteams, ein Treffen von Unterstützergruppen, am
       Ende: wie Snowden und seine Freundin, wieder vereint, irgendwo in Russland
       den Kochlöffel durch den Suppentopf ziehen.
       
       ## Nachos nachzählen
       
       Poitras erzählt die ganze Geschichte. Sie ist an diesem Abend, an dem zur
       Einlasskontrolle die Barcodes auf den Zugangstickets gescannt werden, gar
       nicht da. Sie kommt erst am Donnerstag nach Leipzig, ist noch in New York,
       wo ihr Film bereits in den Kinos anläuft und, laut ihres Produzenten, mit
       Jubel und Beifall beklatscht wird. In Leipzig ist es still als ihr Film
       endet und der Abspann läuft, es gibt ein kurzes, höfliches Klatschen, mehr
       nicht.
       
       Edward Snowden aber ist zur Premiere auch auf andere Weise präsent. Er
       spricht eine Grußbotschaft an die Zuschauer: „Die Ereignisse in Leipzig“,
       sagt er mit Verweis auf das Jahr 1989, „erinnern uns daran, dass Mauern
       nicht von Panzern und Armeen niedergerissen werden, sondern von ganz
       gewöhnlichen Menschen.“ Das ist die unaufgeregte Ruhe, auch Beklommenheit,
       dieses Abends, aufregender, als unten die Ninja Turtles und der
       Popcornstand, wo sie, wer weiß, vielleicht gerade die Nachos nachzählen
       müssen. Still ist es und groß.
       
       28 Oct 2014
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Kaul
       
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