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       # taz.de -- Tanz gegen Terror: „Wo bleibt die Menschlichkeit?“
       
       > Eine Choreografin, eine Regieassistentin und ein Rapper haben mit neun
       > Jugendlichen aus Hamburg ein Stück über den Dschihad entwickelt.
       
   IMG Bild: Aufklärung über den Islam: Die Jugendlichen von "Djihad für die Liebe" hüpfen auf der Bühne
       
       HAMBURG taz | Die Jugendlichen auf der Bühne sind Kurden und Deutsche,
       Afghanen und Roma, und der Terror des „Islamischen Staates“ macht sie
       wütend: Natürlich wiege im Islam die Versündigung gegen Gott schwer –
       schwerer aber doch die Versündigung gegen den Menschen!
       
       Oft ist es etwas Persönliches, was sie erzählen: Der Vater von Ahmad Hamed
       wurde in Afghanistan von Taliban ermordet, jahrelang war er auf der Flucht,
       saß in Ungarn im Gefängnis, nun ist er seit vier Monaten in Deutschland.
       Daniel hat einen Rap über Diskriminierung und seine Herkunft geschrieben –
       seine Eltern sind als Roma vor der Verfolgung aus Montenegro geflüchtet.
       Und die Kurdin Zeynep erzählt vom Traum einer jungen Frau, Anwältin zu
       werden: Abitur will sie machen, ein Diplom bekommen. „Aber heute will ich
       sterben.“
       
       Es sind kleine berührende Szenen, die die Jugendlichen und jungen
       Erwachsenen im Media Dock an der Stadtteilschule Kirchdorf im Hamburger
       Stadtteil Wilhelmsburg entwickelt haben. „Djihad für die Liebe“ heißt das
       Tanztheaterprojekt der Soziologin und Choreografin Irinell Ruf, der
       Regieassistentin Roza Kurdo und dem Rapper und Videokünstler Jan Hendrik
       Holler. Am heutigen Samstag feiert das Stück Premiere – zum Abschluss des
       Studientags „Gewaltfreiheit und Gewalt in den Religionen“ der Akademie der
       Weltreligionen an der Universität Hamburg. Am Sonntag ist es noch einmal im
       Bürgerhaus Wilhelmsburg zu sehen.
       
       Man spürt schnell, worum es geht: Nicht um die Unterschiede zwischen ihnen,
       sondern um das, was sie als Menschen verbindet. Sie zitieren aus dem Koran
       und aus der Bergpredigt, blättern in Büchern mit Emil-Nolde-Bildern oder
       über islamische Kalligrafie. Sie tanzen gemeinsam, streiten gemeinsam,
       sitzen gemeinsam traurig an der Wand. Immer wieder geht es um die Bedeutung
       des Wortes Dschihad und immer wieder taucht eine Frage auf: Wo bleibt die
       Menschlichkeit?
       
       Es ist bemerkenswert, wie viel hier in kurzer Zeit entstanden ist: Seit
       vier Tagen proben sie gemeinsam, am Wochenende hat sich die Gruppe das
       erste Mal getroffen, hat einen Film gesehen und darüber diskutiert: „Ein
       Dschihad für die Liebe“, so heißt der Dokumentarfilm des indischen
       Filmemachers Parvez Sharma. Schwule und lesbische Muslime aus verschiedenen
       Ländern erzählen darin ihre Geschichte, erkunden das Verhältnis von
       Homosexualität und Religion.
       
       Im Theaterstück geht es um diese Themen allerdings nicht – natürlich sei
       der Film kontrovers diskutiert worden, erzählt Choreografin Ruf, die das
       Projekt initiiert hat: Was habe Sexualität mit Dschihad zu tun? Aber so
       arbeite sie immer: Erst ein irritierender Impuls, um Gewohnheiten bewusst
       und veränderbar zu machen. Diese Form von Theater gehe auf Kurt Jooss
       zurück, der in den 20er-Jahren den Faschismus in Deutschland vorausgesehen
       und darüber ein Stück gemacht habe. „Es ist ein Theater, das über Bilder
       und Körpersprache politische Zusammenhänge thematisiert“, sagt Ruf.
       
       Seit 14 Jahren lebt die Choreografin in Hamburg, hat mit ihrem Verein
       „Academie Creartat“ schon etliche interkulturelle Tanztheater- und
       Filmprojekte entwickelt. Mehr als 1.300 Kinder und Jugendliche haben allein
       am Gewaltpräventionsprojekt „Wohin mit meiner Wut“ teilgenommen.
       
       Viel sei diesmal diskutiert worden, sagt Ruf: „Was ist Dschihad für dich,
       was bedeutet er für dich?“ Schnell sei aber deutlich geworden, dass es eine
       Verständigung über den Begriff gibt: Dschihad, das bedeute für die
       Jugendlichen nicht das Töten von Feinden, sondern Kampf gegen Unterdrückung
       und das Bemühen, durch Selbsterkenntnis zu Gott zu kommen. Nur die
       Verknüpfung von Herz und Verstand mache den Menschen vollkommen.
       
       Die Idee zu dem Projekt sei ihr gekommen, als sie die Stellungnahme der
       Schura, des Rates der muslimischen Gemeinden in Hamburg, gegen den Terror
       des „Islamischen Staats“ in Syrien und Irak gelesen habe, erzählt Ruf. „Sie
       haben klar gesagt: Das hat mit Islam alles nichts zu tun. Ich habe sofort
       den Vorsitzenden, Mustafah Yoldaş angerufen und ihm ein Projekt
       vorgeschlagen. Und er fand die Idee toll.“
       
       Als sie dann bei Jugendlichen für das Projekt geworben habe, hätten auch
       alle sofort verstanden, worum es gehe, sagt Ruf: „Muslime wissen in der
       Regel, dass Dschihad etwas anderes bedeutet als heiliger Krieg.“ Auch die
       Sozialbehörde sei begeistert gewesen, sagt Rapper Holler. „So schnell haben
       wir einen Antrag noch nie durchbekommen.“
       
       In der Mittagspause sitzen alle im Kreis und erzählen von ihrer Motivation,
       beim Projekt mitzumachen. Qudratullah, einer der afghanischen Jugendlichen,
       spricht von seinem heiligen Ziel: allen Menschen auf der Welt zu sagen,
       dass Dschihad nicht bedeutet, andere Menschen umzubringen. „Ich persönlich
       tue einfach meine Pflicht“, sagt auch Reza, der ebenfalls aus Afghanistan
       kommt. „Ich bin der Meinung, wenn es um Aufklärung geht, dann muss jeder
       dranbleiben.“
       
       Der deutsche Jugendliche Jonathan erzählt, dass er sich viel mit dem Thema
       auseinandergesetzt hat: „Ich bin schockiert von dem, was in Syrien und Irak
       gerade passiert“, sagt er, „aber ich bin auch schockiert, was für eine
       unglaubliche Islamophobie dabei entsteht.“ Ähnlich geht es Elisa: „Mich
       stört an den Mediendarstellungen die Kategorisierung und Vereinheitlichung:
       dass der Orient und der Islam barbarisch seien, dass sie mit Gewalt und
       Gewaltbereitschaft gleichgesetzt werden“, sagt sie.
       
       „Hier sitzen kurdische und afghanische Muslime, ein katholischer Roma und
       das deutsche Bildungsbürgertum“, sagt Holler, der Rapper. „Und allen wird
       bewusst: Wir sind Menschen, können toll miteinander arbeiten. Das ist es,
       was wir auf die Bühne bringen und vermitteln: Man sieht es und man spürt
       es.“
       
       Viel haben sie alle zu erzählen und vielen geht das Thema sichtlich nahe:
       Die Kurdin Nupelda möchte einem Mitschüler zeigen, der vor kurzem den
       Dschihad mit dem Salafismus gleichgesetzt hat, dass man genau hinsehen
       muss, dass das Wort Dschihad etwas Wunderschönes meine. Auf jeden
       Fernseher, schlägt sie vor, solle man ein Schild kleben, auf dem steht:
       Lies und erkenne, bevor du sprichst. Tief erschüttert sei sie gerade, wie
       wenig Menschen angesichts der aktuellen Situation im umkämpften Kobaně und
       gegen den Genozid an den Jesiden in Şengal auf die Straße gingen – dann
       stockt ihr die Stimme und sie beginnt zu weinen: „Wo bleibt die
       Menschlichkeit?“
       
       ## ■ Sa, 25. 10., 20 Uhr, Uni Hamburg, Edmund-Siemers-Allee 1, Hörsaal B;
       weitere Aufführung am So, 26. 10., 18 Uhr, Bürgerhaus Wilhelmsburg,
       Mengestraße 20
       
       25 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Matthies
       
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