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       # taz.de -- Kolumne Der Rote Faden: Krieg unterm Küchenfenster
       
       > Warum die linke Musikszene Neapels die Verbrechen der Camorra ignoriert
       > hat. Und was das mit einem kriminellen Drogenfahnder in Kempten zu tun
       > hat.
       
   IMG Bild: „Gemeinsam gegen die Camorra“ heißt es beim Papstbesuch im Juli – doch in Neapel stehen oft nur Migranten auf.
       
       Manchmal stellt jemand eine ganz einfache Frage.
       
       Eine Frage, die so simpel ist, dass sie, wenn sie das erste Mal im eigenen
       Hirn auftaucht, da erst gar nicht rausgelassen werden soll: Weil man denkt,
       das muss sich doch schon jemand anderes gefragt haben; oder weil man
       erschrickt und meint, wenn die einfache Frage noch niemand gestellt hat,
       dann ist sie vielleicht gar nicht einfach – sondern nur dumm und peinlich.
       
       Und wer will schon dumme, peinliche Fragen stellen?
       
       Im Kopf von Daniele Sanzone, 36, Sänger der neapolitanischen Band [1][A67]
       und studierter Philosoph, ist irgendwann so eine einfache Frage aufgetaucht
       – und diese Woche ist er dafür ausgezeichnet worden.
       
       Sanzone aber brauchte einen Vorlauf, ein geistiges Ambiente, in dem
       bestimmte Fragen überhaupt hochkommen können.
       
       ## 3.600 Tote
       
       Es war Roberto Saviano, der in seinem internationalen Bestseller „Gomorrha“
       die Zahl von 3.600 Toten nannte, die der Krieg der Camorra in Neapel und
       Umgebung in den letzten 30 Jahren gekostet hat: Mehr als alle Opfer des
       linken wie rechten Terrors in Italien, mehr als die Toten der ETA oder der
       IRA, mehr als die Opfer aller anderen Mafiaorganisationen in Italien.
       
       Dieser Krieg unterm eigenen Küchenfenster musste doch, sagte sich Sanzone,
       einen Widerhall gefunden haben in der reichen linken Musikszene seiner
       Stadt, die seit Ende der 1970er Jahre mit Künstlern wie Pino Daniele,
       Edoardo Bennato oder 99 Posse sich vom Dudelmainstream abgewandt und
       Traditionen wie der Weltmusik geöffnet hatte – innovativ, engagiert und
       erfolgreich.
       
       Sanzone hörte sich um: Es gab Lieder gegen den Kapitalismus, gegen die
       Polizei, gegen den arroganten Norden und für die palästinensische Sache,
       für Carlo Giuliani natürlich; aber fast kein Lied, das einem Opfer der
       Camorra gewidmet war, keine Anklage gegen eine Organisation, die Neapel in
       ein Schlachthaus verwandelt hat und jede Entwicklung der süditalienischen
       Metropole unmöglich macht.
       
       ## Camorra Sound
       
       Sanzone entschloss sich, der Sache gründlich nachzugehen.
       
       Ergebnis ist das vor Kurzem erschienene Buch [2][„Camorra Sound“.] Für
       seine Recherche ist Sanzone am Dienstag mit dem renommierten, nach dem von
       der Mafia ermordeten Richter benannten „Premio Borsellino“ ausgezeichnet
       worden.
       
       Mit zahlreichen Interviews mit Protagonisten der neapolitanischen
       Musikszene und historischen Exkursen ist das Buch mehr als ein lokales
       Ereignis.
       
       Es stellt allen Linken die Frage, wie sie in bestimmten historischen
       Konstellationen dazu kamen, ihre eigenen Werte so weit auf den Hund kommen
       zu lassen, dass neben dem großen Satan „Staat & Kapitalismus“ alle anderen
       Verbrecher und Verbrechen bestenfalls als zu vernachlässigender
       Nebenwiderspruch, schlimmstenfalls als nicht mal klammheimlicher
       Verbündeter einer fahrlässig vage definierte Subversion durchgingen.
       
       War das radikal links, radikal dumm oder schlicht radikal feige?
       
       Diese Fragen kann umso leichter stellen, wer nicht in einer Stadt mit
       Todesschwadronen lebt.
       
       Sanzone kommt angenehmerweise ohne den Furor des besserwisserischen
       Nachgeborenen aus. Er will das Schweigen der eigenen Leute verstehen, in
       rationaler, italienischer Tradition, die der Dichter Karl Mickel mal auf
       den Vers gebracht hat: „Noch im Arsch des Teufels, will Dante, was er
       wahrnimmt, wissen.“
       
       ## Something completely different
       
       Doch nun – auf, auf in heimeligere Gefilde, fernab von welschen Umtrieben!
       
       Der Leiter der Drogenfahndung im schönen Kempten ist wegen Drogenbesitzes,
       gefährlicher Körperverletzung und Vergewaltigung seiner Ehefrau angeklagt
       worden. Im Februar diesen Jahres waren bei ihm 1,8 Kilogramm Kokain
       gefunden worden.
       
       Der Mann, berichtete diese Woche Landespolizeipräsident Schmidbauer im
       Innenausschuss des bayerischen Landtags, habe bereits seit Jahren Alkohol,
       Medikamente und Kokain konsumiert.
       
       Zudem wurde 2009 schon einmal gegen den Beamten ermittelt, weil er seine
       Frau verletzt haben sollte. Das Ermittlungsverfahren wurde dann jedoch
       eingestellt, weil die Ehefrau von ihren Vorwürfen abrückte.
       
       Eine Verbindung zu in Kempten seit Jahrzehnten aktiven italienischen
       Mafiagruppen konnte „nicht bewiesen“ werden.
       
       ## Ein toter Staatsanwalt
       
       Dafür, dass mehr hinter der Sache steckt als die Verfehlung eines
       Einzelnen, spricht allerdings, dass sich der ehemalige Abteilungsleiter
       Betäubungsmittel der Kemptener Staatsanwaltschaft einer Befragung zum
       tiefen Fall seines Spitzenfahnders mit dem radikalst möglichen Mittel
       entzog: durch Selbstmord.
       
       Hier, so sieht es jedenfalls die Opposition in Bayern und spricht von
       „Kumpanei“, gab es eine Menge wahrzunehmen – nur wissen wollte halt niemand
       lange nichts Genaues.
       
       24 Oct 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://napoli.repubblica.it/cronaca/2014/09/30/foto/premio-97016882/1/#1
   DIR [2] http://www.ilfattoquotidiano.it/2014/08/22/camorra-sound-il-libro-che-racconta-il-silenzio-della-musica-impegnata-sui-clan/1096101/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
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