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       # taz.de -- Die Wahrheit: Der objektiv kritische Lottogewinn
       
       > „Sechs Richtige! Jenny, wir sind reich!“: Wie Karl und Jenny Marx einmal
       > mit ihrem Losglück beinahe einen Riesenreibach gemacht hätten.
       
       Ungläubig starrte Karl Marx auf den Fernseher. „Unfassbar!“, murmelte er
       und kniff Jenny, die neben ihm auf dem zerschlissenen Sofa hockte, in den
       Arm.
       
       „Au! Du tust mir weh!“
       
       „Also, ist es die objektive Wirklichkeit“, staunte Marx. „Sechs Richtige!
       Jenny, wir sind reich!“
       
       „Lass uns erst noch mal die Zahlen vergleichen“, zögerte die kritischer
       veranlagte Jenny noch.
       
       Marx wusste sie auswendig: „Die 18, die 48, die 19, die 17, die 45, die
       49!“ Er wedelte mit dem Durchschlag von der Lotto-Annahmestelle: „Exakt
       unsere Zahlen, die wir seit Jahren tippen, Jenny! Hol den Champagner!“ –
       „Wir haben keinen Champagner.“ – „Dann den Wein!“ – „Wir haben keinen
       Wein.“ – „Was haben wir denn?“ – „Wasser, falls die Stadtwerke heute Abend
       die Sperre aufgehoben haben. Du hast doch am Nachmittag den Betrag bei der
       Bank eingezahlt?“ – „Ähm? äh …“ – „Karl!“
       
       ## Der Jackpot ist geknackt
       
       „Ich … na ja … ich war in der Bibliothek und … ich habe … ich bin … und als
       ich auf die Uhr sah, hatte die Bank schon zu! Aber … weißt du … dafür bin
       ich mit meiner Ricardo-Lektüre gut vorangekommen! Wusstest du, dass
       zwischen dem Tauschwert der Ware und der zu ihrer Produktion aufgewandten
       Arbeitskraft, gemessen in Zeit, in Wahrheit –“
       
       „Nein, Karl! Das will ich nicht wissen! Und was soll das mit der Zeit, wenn
       du nicht mal welche hast, um eine Wasserrechnung zu bezahlen!“ – „Jenny,
       ich …“ – „Ach, du!! Du bist und bleibst …“ – „Mama, Papa, warum streitet
       ihr euch? Ich kann nicht schlafen!“
       
       Die kleine Laura stand im schmutzigen Nachthemd in der Tür, im Arm ihren
       abgeliebten Teddy, dem ein Auge und ein Arm fehlte.
       
       „Ach Schatz, wir streiten uns doch nicht“, säuselte Jenny. „Wir freuen uns
       so sehr, weil wir im Lotto gewonnen haben! Wir haben den Jackpot geknackt!“
       
       „Wir sind reiche Leute!“, rief Marx. „Jetzt ist es vorbei mit dem Leben in
       Sperrmüllmöbeln, mit dem Dosenfutter von Aldi und dem Fraß von der Londoner
       Tafel! Ab sofort sind Kaviar, Austern und Schampus angesagt!“
       
       „Und für euch Bonbons ohne Ende!“, ergänzte Jenny. „Ich gehe und hole
       was!“, röhrte Marx. „Und du weck Jenny und Tussy! Wir feiern!“
       
       Während Jenny die beiden anderen Töchter weckte, kaufte Marx von dem
       Wassergeld zwei Flaschen Sekt und eine Tüte Prickel Pit beim Kiosk um die
       Ecke, denn anschreiben lassen konnte er seit Langem nicht mehr. Als er
       zurückkam, saßen oder lagen alle um den niedrigen Couchtisch, dessen
       viertes Bein ein paar Exemplare des „Kommunistischen Manifests“ bildeten.
       
       Marx riss die Tüte auf, entkorkte die Flasche und reichte sie seiner Frau,
       die den ersten Schluck nahm und sie dann reihum kreisen ließ. „Aber nur
       nippen!“, ermahnte Jenny die Kinder, während sich Karl ungeduldig die
       Lippen leckte.
       
       Als sie hinterher beschwipst im Bett lagen, kuschelte sich Jenny wohlig an
       Karl. „Was machen wir nur mit all dem Geld?“, fragte sie träumerisch. –
       „Ich kann mir endlich den Ricardo kaufen und muss nicht mehr in die
       Bibliothek fahren!“, antwortete Karl. „Zuerst einmal kannst du endlich zum
       Frisör“, neckte ihn Jenny, die von beiden die realistischer Denkende war.
       „Im Ernst: Wir können die Wände tapezieren, uns Auslegeware leisten, sodass
       wir nicht mehr über den Estrich laufen müssen …“ – „… neue Möbel
       anschaffen, eine richtige Sitzgarnitur mit Schrankwand … auch für die
       Sitzungen von der Internationalen Arbeiterassociation! So was haben die
       Genossen noch nie gesehen.“ – „Und natürlich eine Einbauküche …“ – „… jeden
       Tag Hummersalat und Château Margaux und nicht nur, wenn Friedrich die Güte
       hat, uns zum Essen auszuführen …“ – „Du könntest die Arbeit am Kapital sein
       lassen und was Vernünftiges tun, etwas, wozu du wirklich Lust hast …“ –
       „Ja, wilde Gedichte schreiben, genau wie Heinrich in Paris!“ – „Und apropos
       Kapital, du könntest eigentlich eine Fabrik aufmachen. Du weißt doch jetzt,
       wie man das macht.“ – „Na ja …“ – „Aber zuerst müssen wir natürlich unsere
       Schulden beim Bäcker, Metzger und Schuster bezahlen.“ – „Nur keine Eile!“,
       wehrte Karl ab. „Wir ziehen doch sowieso hier weg.“ – „In eine eigene
       Villa“, rief Jenny enthusiasmiert, mit der nun doch die Gäule durchgingen:
       „Mit fünf Schlafzimmern und zehn Bädern! Dann laden wir meine Eltern ein.
       Die werden Augen machen! Endlich standesgemäß leben … Von wegen, ich hätte
       einen Nichtsnutz und Galgenstrick geheiratet … Wir werden glanzvolle Partys
       geben!“
       
       „Stell dir Ferdinand vor, deinen feinen Herrn Halbbruder, diesen
       reaktionären Sack von preußischem Innenminister! Wenn der sieht, was bei
       uns abgeht!“ – „Dem wird es die Sprache verschlagen. Unsere Töchter werden
       Barone und Prinzen heiraten!“ – „Nein, mit dahergelaufenen Ministern geben
       sie sich nicht ab!“ – „Wir müssen natürlich auch was für die Kinder
       zurücklegen“, warf Jenny ein. „Ja natürlich. Wenn wir für die vier …“ –
       „Vier?! Wieso vier?!“
       
       Jenny war mit einem Schlag nüchtern, löste sich von Karl und richtete sich
       auf. „Wie kommst du auf vier? War der Frederick etwa doch?“
       
       „Aber nein, auf keinen Fall!“ Karl war blass geworden. „Frederick ist
       Friedrich sein Balg, das weißt du. Hat Lenchen doch selber zugegeben! Ein
       Dienstmädchen darf sich eben nicht mit einem reichen Fabrikanten einlassen.
       Dass das nicht gut geht, hat ihr Friedrich immer wieder gesagt … aber die
       dumme Gans passt einfach nicht auf …“ – „Nur seltsam, dass der Frederick
       dir so ähnlich sieht, Karl. Wie aus dem Gesicht geschnitten!“ – „Das kommt,
       weil Friedrich und ich seit Jahrzehnten die besten Freunde sind. Das färbt
       eben noch mehr ab, als man denkt.“ – „Ach, ist das der neue dialektische
       Materialismus?“ – „Davon verstehst du nichts. Überhaupt, was hätte ich denn
       mit dieser, wie hieß sie doch gleich … na … mit dieser Dings … Helene
       Demuth anfangen sollen, wo ich dich habe, Jenny!“ – „Jajaja. Red du nur.
       Ich schlafe jetzt.“
       
       ## Niemand sollte es erfahren
       
       Obwohl die Marxens es niemandem erzählten, hatte sich die Nachricht von
       ihrem Sechser im Lotto in Windeseile herumgesprochen. Schon am übernächsten
       Tag kam ein Telegramm von Friedrich Engels, der sie beglückwünschte. Dabei
       hatte Karl Marx gerade vor ihm den Lottogewinn so lange wie möglich
       verheimlichen wollen, um noch eine Weile die Überweisungen von dem reichen
       Freund einzusäckeln. Aber einen weiteren Tag später stand die ganze Bagage
       vor der Tür: der Michail, der August, die Rosa, der Wladimir, der Josef,
       der Leo, der Walter und der Erich, die alle nichts zu verlieren hatten
       außer ihrer blendend guten Laune. „Revolutionäre aller Länder, vereinigt
       euch!“ brüllend, stürmten sie die Marx’sche Wohnung.
       
       ## Kein Groschen an Trotzki!
       
       „Wo ist der Château Lafitte?“, fragte Michail, „wir müssen auf unseren
       Sechser anstoßen!“, rief Wladimir, „für mich einen Prosecco!“, fiel Rosa
       ein und hob die Stimme: „Freiheit ist immer auch die Freiheit der anderes
       Trinkenden!“ – „Ich habe bereits einen Plan gemacht, wie wir das Geld
       verwenden und was wir damit erreichen“, zog Walter einen Stapel Papiere aus
       seiner abgeschabten Aktentasche, die er seit seiner Zeit in Moskau nicht
       aus der Hand gab. „Keinen Groschen an Trotzki!“, drängte Josef alle anderen
       zur Seite und umarmte Karl, der nicht wusste, was das werden sollte.
       
       Zum Glück löste sich eine Woche später alles in Missfallen auf, als der
       Mann von der staatlichen Lottogesellschaft kam und die Marxens den
       Durchschlag des Tippscheins vorweisen mussten, um die siebeneinhalb
       Millionen Pfund Sterling in Empfang zu nehmen: Er war nicht aufzutreiben.
       Karl musste ihn in seiner Zerstreutheit wie so oft als Toilettenpapier
       verwendet haben … Richtiges konnten sie sich ja nicht leisten!
       
       Der bürgerliche Traum von Reichtum und Aufstieg hatte sich als Papiertiger
       erwiesen. Erneut war die Richtigkeit der Lehre des Marxismus-Leninismus
       bewiesen worden, und das Sein bestimmte fortan wieder Karls Bewusstsein.
       
       19 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Köhler
       
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