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       # taz.de -- Ost-Vermittler, Kreml-Versteher: Unterhändler mit zwei Seelen
       
       > Sein direkter Draht zu Wladimir Putin machte Alexander Rahr erst zum
       > Kanzlerberater. Und später dann zum Gazprom-Lobbyisten.
       
   IMG Bild: Drahtzieher unter sich: Alexander Rahr (M.) mit Hans-Dietrich Genscher (re.) und Michail Chodorkowski im Dezember 2013.
       
       Als „das mit der Krim passiert ist“, sagt Alexander Rahr, bis zum letzten
       Frühjahr für Deutschlands Medien der Russlandexperte Nummer eins, „sind wir
       praktisch alle vom Stuhl gefallen“. Hätte man das als Masterplan Putins
       erkennen müssen? „Ich hab da keine Zeichen dafür gesehen.“
       
       Rahr, als Nachkomme russischer Emigranten 1959 geboren, sitzt im
       Straßencafé wie aus der Zeit genommen, elegant in Taubentöne gekleidet. Mit
       verschwimmendem, hellbraunem Michverstehtkeiner-Blick blinzelt er gegen die
       Sonne in Richtung auf den Berliner Hauptbahnhof. In dieser Stadt lebt er
       mit Kindern und Frau. Sie stammt aus einer in den 90ern ausgewanderten
       Petersburger jüdischen Familie, der Sohn geht in die Grundschule, die
       Tochter in den jüdischen Kindergarten. „Ich bin in Wirklichkeit
       Kosmopolit“, vermeldet Rahr.
       
       Nach den Fehleinschätzungen in puncto Krim, nachdem er auf dem Maidan vom
       „Westen“ in Kampfuniformen gesteckte Leute ausgemacht hatte, verschwand er
       erst mal von den Bildschirmen. Rahrs Thesen wiesen auch früher oft starke
       Schlagseite auf. Als bare Münze verkaufte er oft Schutzbehauptungen der
       kleptokratischen russischen Regierung.
       
       Dass deren Politik für uns Nachbarn ungefährlich sei, an diesem Mythos hat
       der Politologe jahrelang fleißig mitgesponnen. Berühmt wurde er durch sein
       Buch „Wladimir Putin. Der ’Deutsche‘ im Kreml“ (2000). Sein bislang letztes
       Werk, „Der kalte Freund“ (2011), präsentierte Frank-Walter Steinmeier
       persönlich. Rahr wiederholt darin seine Lieblingsthese: Wir müssen Putin
       helfen, denn wir sind auf Gedeih und Verderb an Russland gebunden, auch
       wenn es uns nicht gefällt. Der Teil-Insider ignoriert darin zahlreiche
       Quellen von renommierten russischen GesellschaftskritikerInnen.
       Wissenschaftlich ist das nicht.
       
       Trotzdem fungierte Rahr als wichtigster Russlandexperte für die deutsche
       Wirtschaft. Während der Ägide des ehemaligen Kanzlers Gerhard Schröder und
       seines Kanzleramtsministers Frank-Walter Steinmeier hat er die
       Russlandpolitik der Bundesregierung geprägt. Die Hallen seiner damaligen
       Wirkungsstätte, des Think-Tanks Deutsche Gesellschaft für Auswärtige
       Politik (DGAP), bildeten ein Rückzugszentrum für Reiche und Einflussreiche
       aus beiden Ländern. In jenen geschlossenen Räumen vertiefte sich
       Deutschlands Abhängigkeit von russischen Energieträgern.
       
       Als die Gelder für seine Arbeit innerhalb der DGAP spärlicher flossen,
       wechselte er im Jahre 2012 als „Senior Adviser“ zur eng mit dem russischen
       Staatskonzern Gazprom verflochtenen Wintershall Holding GmbH über. Nun ist
       er ganz offiziell bezahlter Lobbyist. Sein persönliches Ziel, „Deutschland
       und Russland zusammenzubringen“, verfolgt er außerdem in seinen „Formaten“.
       So bezeichnet er von ihm mitbegründete periodische Mammutkonferenzen von
       InteressenvertreterInnen wie den „Petersburger Dialog“ und das mit dem
       Ostausschuss der deutschen Wirtschaft eng verbundene „Deutsch-Russische
       Forum“.
       
       Dessen vorerst letzte Veranstaltung fand Mitte Mai in Berlin statt, mit dem
       russische Eisenbahnchef und Putin-Vertrauten Wladimir Jakunin. Der riss
       dummdreist Witze über Homosexuelle. Rahr sank zusammen, hielt sich den Tag
       über zurück, erteilte leise das Wort, besorgten deutschen
       Wirtschaftsvertretern so wie polternden postsowjetischen Politberatern.
       Aber am Abend war Rahr es, der aus einem virtuellen Zylinder die Resolution
       hervorzauberte. Die forderte in Putin-kompatibler Diktion ein gemeinsames
       kontinentales Europa, mit „unbedingtem gegenseitigem Respekt“, von Lissabon
       bis Wladiwostok.
       
       ## Mit geflügelten Füßen zum Kreml
       
       Die deutschen Industriellen brauchten Rahr als Vermittler zuverlässiger
       Kontakte zu russischen Entscheidungsträgern – und Putin. Wie Hermes, alias
       Merkur, der griechische Gott der Diebe und Kaufleute, verkehrte er mit
       geflügelten Füßen zwischen ihnen und dem Olymp im Kreml. „Er war der
       Einzige, über den man direkt Fragen an die russische Führungsspitze richten
       konnte. Um die Drähte dorthin nicht zu verlieren, musste er sich in vielen
       Äußerungen mäßigen“, meint ein nicht genannt sein wollender ehemaliger
       Mitarbeiter. Als aber Zeus dem Götterboten Flügel verlieh, bat er ihn der
       Sage nach, nicht zu lügen. Der versprach’s mit einer Einschränkung: „Ich
       werde nie die ganze Wahrheit sagen.“
       
       Wie Hermes wandelte Alexander Rahr je nach Landungsort seine Gestalt.
       Hierzulande plädierte er öffentlich dafür, zwischen der Verteidigung der
       Menschenrechte und notwendigen Kooperationen mit der russischen
       Führungsspitze abzuwägen. Doch bei Interviews für die russische Presse
       griff er den Westen scharf an. So warf er Anfang 2013 in der Zeitschrift
       Odnako den deutschen Politikern und Intellektuellen, eine „oberlehrerhafte
       Haltung“ gegenüber Russland vor“. Viele seien darüber verärgert, „wie der
       Westen seine Werte zu einer neuen Religion bzw. zu einem Dogma erhoben hat“
       und eine Art „Minderheitenkult“ betreibe. Rahr fähr fort: „Mich erinnert
       diese Ideologie an Lenin und Trotzki. Die waren der Ansicht, dass man die
       proletarische Revolution weltweit verwirklichen müsse.“ Der Westen
       exportiere eine „Revolution der Mittelklasse“, und dies „keineswegs immer
       mit friedlichen Mitteln“.
       
       Wie so oft übersetzt er hier einen Monolog von Kreml-Ideologen, ohne ihn zu
       hinterfragen. Ist Rahr also ferngesteuert? In einem Spiegel-Interview
       bescheinigt er sich „zwei Identitäten“, eine deutsche und eine russische.
       „Er meint meistens wirklich, was er sagt“, berichtet einer seiner
       ehemaligen Mitarbeiter: „Nur schießt er oft los, bevor er richtig
       nachdenkt.“
       
       In der Sonne am Berliner Hauptbahnhof denkt er nach, rekonstruiert
       freundlich-interessiert seine Biografie – seit seiner Geburt eine Funktion
       der deutsch-russischen Beziehungen. Er wuchs in Eschborn und später bei
       München auf, in bescheidenen Verhältnissen, als ältestes von sechs
       Geschwistern. Reich war die Familie an Diskussionen über Russland. Sein
       Vater und Vorbild, der russisch-orthodoxer Religionswissenschaftler und
       einstige KZ-Häftling Gleb Rahr, agierte weltweit publizistisch, kirchlich
       und karitativ.
       
       ## Wie durch eine Luke stieg er von oben in Moskau ein
       
       Das Geschichtsstudium verdiente sich der junge Alexander nachts durch
       Recherchearbeit für den nach Russland strahlenden US-Sender Radio Liberty.
       Sowjetunionreisen waren dort nicht gern gesehen. „Ich kannte eigentlich
       niemanden aus Russland“, sagt er: „Aber dann kam die Perestroika und ich
       war fünfundzwanzig.“ Im Englischen Garten wurden sowjetische Filme gezeigt.
       Als ein reformwilliger russischer Abgeordneter ihn um Hilfe bat, stieg
       Alexander Rahr 1990 wie durch eine Luke von oben in das neue Russland ein.
       Bald vertrat er in Moskau den Recherchedienst von Radio Liberty, verkehrte
       in der politischen Elite, auch im Kreml, und knüpfte seine später
       unersetzlichen Kontakte.
       
       Eine Schwester Alexanders heiratete einen russisch-orthodoxen Geistlichen,
       sein Bruder ist selbst einer. Die russischste Institution für Familie Rahr
       war stets die Kirche. Als Vater Gleb sich im Jahre 1991 nach 60 Jahren auch
       wieder nach Russland wagte, wählte ihn der Moskauer Patriarch Alexij II.
       aus, um der Russischen Kirche im Ausland ein Wiedervereinigungsangebot zu
       überbringen. Diese lehnte ab. Prompt unterstellte sich Rahr senior direkt
       dem Moskauer Patriarchat. Wusste er denn nicht, dass Alexij ein KGB-Agent
       war? Dass die Vorhöfe der russischen Kirchen nur so vor nationalistischen
       und antisemitischen Hetzschriften strotzten?
       
       „Das gab’s dort, ja“, lenkt sein Sohn ein, heute wisse er mehr darüber.
       Aber auch heute sehe er für die Auslandskirche keine Zukunft außerhalb des
       Moskauer Patriarchats: „Woher sollen denn die Bischöfe kommen? Natürlich
       haben die meisten von ihnen mit dem KGB zusammengearbeitet, wer in einer
       solchen Position konnte sich dem entziehen?“ Er setze seine Hoffnung auf
       das Verschwinden dieser Generation.
       
       Die kirchliche Wende des Vaters erleichterte dem Sohn das Agieren. Noch
       galten Emigranten in den Augen vieler daheim Gebliebener als
       Landesverräter, da erlangte Rahr senior Absolution für seine gesamte
       Familie. In dem 2006 von der russischen Agentur RIA Novosti verbreiteten
       Nachruf auf Gleb Rahr heißt es: „Das Ehepaar Gleb und Sofja Rahr erzogen
       ihre sechs Kinder im Geiste des Dienstes an der Kirche und der Treue zu
       Russland.“
       
       Von Haus aus konservativ, scheute sich Alexander Rahr nicht, auch
       Ultrapatrioten in die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
       einzuladen, zum Beispiel den Rechtsradikalen und heutigen Vizepremier
       Dmitri Rogosin. Der unterhält beste Kontakte zu EU-feindlichen westlichen
       Parteien wie dem Front National und verkündete schon 2006 den genauen Plan
       für die Annexion der Krim.
       
       Darüber, dass die deutschen Gesprächspartner diesen Mann und seinesgleichen
       als zu aggressiv empfanden, staunt Rahr ehrlich. In den vergangenen Jahren
       verzeichnete er nur einen großen politischen Erfolg: Ende 2013 half er
       Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, als eine Art Dolmetscher, wie er
       sagt, bei der Befreiung des lange inhaftierten Kreml-Kritikers Michail
       Chodorkowski.
       
       Und Wladimir Putin? Der lud den Politologen nach dem Erscheinen seiner
       Putin-Biografie im Jahre 2000 erstmals ein, zu einem Abendessen in den
       Kreml. „Das war ein schönes Abendessen, das kann man ruhig sagen. Putin war
       ja auch anders als jetzt“, sagt Rahr. „Er hat mir viel zugehört. Und damit
       hat er mich natürlich auch vereinnahmt. Wenn so ein Staatschef da sitzt,
       mit dieser Bürde, das ist ja schließlich auch nicht einfach.“ Später habe
       er Putin etwa zweimal jährlich auf Tagungen getroffen: „Aber ich habe kein
       inneres Verhältnis zu ihm – überhaupt nicht. Ich weiß nichts über sein
       Privatleben. Ich glaube zu wissen, wie er damals dachte und welche Pläne er
       hatte. Aber ich weiß nicht, wie er heute denkt.“
       
       16 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Kerneck
       
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