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       # taz.de -- Reaktionen auf Literaturnobelpreis: In flagranti als Nichtleser ertappt
       
       > Selbst in seinem Heimatland ist die Auszeichnung von Patrick Modiano eine
       > Überraschung. Die meisten kannten bisher nur seinen Namen.
       
   IMG Bild: Selten so überraschend und dennoch keine Seltenheit: Modiano ist der 15. französische Literaturnobelpreisträger.
       
       PARIS taz | Eine völlig unrepräsentative telefonische Umfrage im Pariser
       Bekanntenkreis ergibt Folgendes: Alle kennen Patrick Modiano … aber nur dem
       Namen nach. Die meisten gestehen offen und ohne jeglichen Anflug von
       bildungsbürgerlicher Verschämtheit, dass sie keinen der Romane gelesen
       hätten, die diesem französischen Autor jetzt den begehrten
       Literaturnobelpreis eingebracht haben. Das wird sich schlagartig ändern.
       
       So bekannt Modiano in seinem Land bisher schon gewesen ist, so groß war
       dennoch die Überraschung über die Auszeichnung aus Stockholm. Etwas
       improvisiert wirkten auch die hastig veröffentlichten Gratulationen von
       Kulturministerin Fleur Pellerin. Sie sei „bewegt, glücklich und stolz“
       angesichts der „wirklich verdienten Auszeichnung“, schreibt sie in einer
       ersten Reaktion per Twitter.
       
       Muss man also Modiano doch gelesen haben? Das fragen sich jetzt alle, die
       sich durch die Nobelpreisverleihung in flagranti als Nichtleser eines
       weltberühmten Romanciers ertappt fühlen, der vom Preisverleiher als „Marcel
       Proust der Gegenwart“ gefeiert wird.
       
       In aller Eile holten die ebenfalls völlig überrumpelten französischen
       Medien aus ihren Archiven ein Interview mit Modiano oder die letzte
       Buchbesprechung (sein neuestes Buch „Pour que tu ne te perdes pas dans le
       quartier“ ist gerade erst am 2. Oktober erschienen) hervor. Die ersten
       Reaktionen sind jedenfalls nicht identisch mit der doch fast allgemeinen
       Zustimmung, die spürbar war, als sechs Jahre zuvor der nicht minder
       renommierte Franzose J. M. G. Le Clézio denselben Preis erhielt.
       
       ## Ein Trostpreis für die Grande Nation
       
       Etwas hämisch wäre dazu höchstens anzufügen, dass das um seine kulturelle
       Ausstrahlung und seinen Rang in der Welt so besorgte Frankreich jede Ehre
       seitens Nobelkomitees so oder so gern als Trostpreis empfindet. Mit dem
       gallischen Hahnenschrei „Cocorico!“ kommentiert das Online-Büchermagazin
       [1][Myboox.fr] das Ereignis. Und auf Twitter schreibt der
       Le-Monde-Journalist Bastien Bonnefous: „Wir haben kein Wirtschaftswachstum,
       dafür haben wir einen Literaturnobelpreisträger.“
       
       So selten ist das nicht. Immerhin ist Modiano bereits der 15. französische
       Autor, dem diese Ehre widerfährt. Nur Jean-Paul Sartre hatte die ihm
       „drohende“ Würdigung zum Andenken an den Rüstungsindustriellen und Erfinder
       des Dynamits, Alfred Nobel, im Voraus abgelehnt.
       
       Obwohl Modianos Name auf der diesjährigen Liste der möglichen Anwärter auf
       den Literatur-Nobelpreis stand, war auch für die professionellen
       Literaturkritiker die Eilmeldung aus Stockholm eine Überraschung. Drei Tage
       zuvor hatte beispielsweise die Zeitung [2][Le Figaro] mit Erstaunen zur
       Kenntnis genommen, dass Modiano bei den Online-Wettbüros, ebenso plötzlich
       wie unvermutet, zu den Favoriten gezählt wurde.
       
       Sein Pariser Verleger Gallimard wollte dennoch keine allzu optimistischen
       Spekulationen wagen: „Der Name von Modiano zirkuliert seit Jahren. Wir
       sagten uns darum, dass er den Status hätte, um eines Tages von der
       Schwedischen Akademie ausgezeichnet zu werden.“ In die engere Auswahl aber
       hatte er es nie geschafft. Entscheidend war vielleicht, dass Modianos in 36
       Sprachen herausgegebene Romane auch ins Schwedische übersetzt worden sind,
       vermutet man in Frankreich.
       
       Eine andere Begründung riskiert [3][The Guardian]. Die britische Zeitung
       ist der Meinung, die Nobelpreisjury wolle mit ihrer Wahl gezielt im
       Kulturkampf gegen die angelsächsische Dominanz ein Exempel statuieren: „Die
       Ankündigung des Literaturnobelpreisträgers dient jedes Jahr dazu, die
       amerikanischen Giganten auf die Ersatzbank zu verweisen, als ob diese eine
       Bande von Trivialliteraten wären.“ So stehe denn auch dieses Jahr wieder
       Philip Roth als strahlender Verlierer da.
       
       10 Oct 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.myboox.fr/actualite/prix-nobel-de-litterature-2014-la-consecration-pour-patrick-modiano-ac-30239.html
   DIR [2] http://www.lefigaro.fr/livres/2014/10/06/03005-20141006ARTFIG00250-nobel-de-litterature-modiano-cree-la-surprise-chez-les-bookmakers.php
   DIR [3] http://www.theguardian.com/commentisfree/emma-brockes-column/2014/oct/09/patrick-modiano-nobel-prize-literature-prize-philip-roth-loser
       
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