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       # taz.de -- Sommer der Kuh: Anarchie und Gemetzel
       
       > Terrorkühe, Opferkühe, Ehrenkühe: Der Sommer 2014 wurde medial von
       > Geschichten über die Kuh beherrscht. Die kommt fast menschlich daher.
       
   IMG Bild: Im Zwielicht: die Kuh.
       
       Die Nachrichtenagentur dpa meldete am 2. 7. 2014 aus Jockgrim: „Die Kühe
       einer Herde in Rheinland-Pfalz haben ihr Wiedersehen in der Nacht zum
       Mittwoch laut gefeiert und damit Verwirrung unter Menschen gestiftet.
       Beunruhigte Ohrenzeugen riefen die Polizei wegen starken Lärms. Die Beamten
       trafen vor Ort auf 20 ausgelassen muhende Kühe. Die Polizisten ermittelten
       ihre Besitzerin. Diese erklärte, bei der Umsiedlung auf eine neue Weide
       seien die Jungtiere zunächst von den alten Tieren getrennt worden. Das
       anschließende Wiedersehen feierten die Rinder laut Polizei bis in die
       Nacht.“
       
       Über Kühe als Subjekte erfährt man ansonsten nur wenig. Höchstens
       schlaglichtartig, wenn zum Beispiel eine Kuh auf ein Dach geklettert ist
       und das zufällig von jemandem fotografiert wurde – so jüngst bei einem
       Emmentaler Bauern geschehen. „Acht Kühe sind bei Sagogn von ihrer Weide
       ausgebrochen; mehrere Rettungskräfte, Tierärzte, ein Taucher und ein
       Helikopter waren im Einsatz, um sie wieder einzufangen“, heißt es in einer
       anderen Nachricht – aus Graubünden.
       
       In Burgstädt bei Chemnitz setzte sich eine Kuh aus einer Herde, die ihr
       Bauer an einer Straße entlang trieb, auf die Motorhaube eines Autos und
       drückte sie ein. Mehrere Kälber brachen in der Nähe von Flims von einer
       Weide aus. Die Tiere mussten schließlich mit einem Helikopter von einer
       Insel aus dem Rhein geborgen werden. Am Mittelrhein legten fünf entlaufene
       Kühe den Zugverkehr lahm.
       
       Zu „Bayerns schönste Kuh“ wurde Erle aus Leiterberg gekürt. Über die
       „schönste Kuh Deutschlands: Krista“ drehte der MDR eine Dokumentation. Ihr
       Besitzer will nun mit Krista viel Geld verdienen. Die Eichsfelder Kuh Paula
       aus dem Stall der „Agroma AG“ ist 14 Jahre alt, hat elf Mal gekalbt und
       gibt immer noch viel Milch mit einem hohen Fettgehalt: Dafür wurde sie mit
       einer „100.000-Liter-Urkunde“ ausgezeichnet.
       
       ## Aggro-Kühe
       
       Umgekehrt wurde in Südtirol eine Frau von einem Stier angefallen und schwer
       verletzt. Die Altbäuerin starb wenig später. In Kleinmürbisch wurde ein
       75-jähriger Landwirt von einer Kuh mehrmals gestoßen und dabei schwer
       verletzt. Kurz danach wurde eine 27-jährige Frau unterhalb der Alm
       Sattlerhütte von einer Kuh angegriffen und erlitt dabei erhebliche
       Verletzungen. Im Salzburger Flachgau biss eine Kuh einer Bäuerin eine
       Fingerkuppe ab und verschluckte sie.
       
       In Bad Wurzbach brachte ein Bauer seine bisher im Stall gehaltenen Kühe
       erstmalig auf die Weide. „Von dort liefen mehrere zum Hof und
       randalierten“, wie der Nordbayrische Kurier berichtete: „Sechs Kühe liefen
       auf die Tenne des Wirtschaftsgebäudes, eine rannte zum Heulager und stürzte
       ein Stockwerk tiefer. Drei Kühe durchbrachen eine Tür von der Tenne zum
       alten Wohnhaus. Dort hielt das Gebälk im Treppenhaus dem Gewicht nicht
       stand, sodass die Kühe zwei Etagen tief ins Erdgeschoss stürzten. Ein Tier
       durchbrach gar eine alte Holzdecke und fiel in den ehemaligen
       Schweinestall. Zwei Kühe wurden verletzt. Das alte Wohnhaus wurde erheblich
       beschädigt.“
       
       Obwohl die Weidesaison 2014 noch gar nicht beendet ist, resümierte der
       Spiegel bereits: „vermehrte Kuhangriffe sorgen für Schlagzeilen“. Und das
       Neue Deutschland schrieb: „In jüngster Zeit machten Rinderattacken auf
       Menschen Schlagzeilen“, wobei es dafür nicht das „Sommerloch“, sondern den
       zunehmenden „Stress des Rindviehs“ verantwortlich machte.
       
       ## Rind im „Kugelhagel“
       
       Aber dann, gerade als C&A seine Kampagne „Hallo Herbst – Bye-bye Sommer“
       startete, drehte sich das Blatt: In München erschossen die Polizisten eine
       wild gewordene Kuh, die sich auf dem Schlachthof losgerissen und eine
       Joggergruppe auf dem Bavariaring über den Haufen gerannt hatte. So weit, so
       schlecht. Aber diesmal war alles anders: Zum Einen hatten die Beamte das
       Tier zuerst mit ihren Pistolen bewegungsunfähig geschossen – und dann mit
       zwei Gewehrschüssen zur Strecke gebracht. Der Spiegel sprach von einem
       „Kugelhagel“, in dem die „Amok-Kuh“ (n24) starb.
       
       Zum Anderen wurden anderntags an der Stelle, wo die staatlichen Organe die
       Kuh liquidiert hatten, Blumen hinterlegt, Grablichter in Milchflaschen
       angezündet und mit einem Zettel „an das Kuh-Drama vom Dienstag erinnert,“
       wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, die dieses „Drama“ bereits am Tag
       zuvor ausgiebig gewürdigt hatte. Unter der Überschrift „Polizei erschießt
       Kuh“ hieß es da: „Ein gezielter Schlag auf die Nase, hat die
       Landwirtschaftskammer Tirol Touristen erst kürzlich geraten, hilft im
       Notfall gegen ein wildgewordenes Rind.“ Aber bei der auf die Theresienwiese
       geflüchteten Kuh „halfen nur noch gezielte Schüsse.“
       
       Die Bild-Zeitung für Bayern fand sogleich einen Namen für das
       „Wiesn-Opfer“: „Der Text ist kurz, aber voller Trauer,“ schrieb sie: „Hier
       starb heute die Kuh ,Bavaria‘, ist auf dem kleinen Zettel zu lesen. ’Sie
       wollte leben und floh vor dem Schlachthof…‘ Daneben lehnen eine Grabkerze
       und ein Plüschtier am Bauzaun hinterm Schützenzelt.“
       
       ## Denkmal für Getötete
       
       Unter den vermeintlich Trauernden gibt es inzwischen Bestrebungen, „ein
       Denkmal für die unbekannte Kuh“ aufzustellen, denn „Bavaria“ sei nicht ihr
       richtiger Name. Zwar hatte sie eine Nummer im Ohr, aber selbst die ist weg,
       denn ihr Kadaver wurde inzwischen entsorgt, da er nicht mehr verwertet
       werden konnte, wie der städtische Schlachthof der Presse mitteilte.
       Provisorisch hat der Wahlmünchner Stefan Rybkowski der ermordeten
       „Terror-Kuh“ (Merkur) schon mal ein „kleines“ Denkmal gesetzt, wie er via
       Twitter wissen ließ.
       
       Wenn man weiß, dass die Versender solcher Botschaften damit am Liebsten
       einen „Shitstorm lostreten“ würden, dann versteht man auch, warum die
       Münchner Polizei schon mal eine Pressekonferenz ansetzte, auf der ihr
       Sprecher Neubert den Erklärungsnotstand damit aus der Welt zu schaffen
       versuchte, dass er behauptete: „Es war eine absolute Ausnahmesituation“.
       
       Weniger Verständnis hatte man für die folgenden Kuh-Vorkommnisse: Ein Bauer
       aus Bregenz und eine Bäuerin aus Linow wurden wegen Misshandlung ihrer Kühe
       verurteilt: Der Landwirt hatte eine kranke Kuh brutal abgeschlachtet: 1.440
       Euro Geldstrafe. Die Landwirtin hatte eine Kuh so schlecht behandelt, dass
       das Tier eingeschläfert werden musste: 1.000 Euro Geldstrafe. Zuletzt
       titelte das Münchner Magazin Focus auch noch: „Schweizer erschießt Frau
       beim Kühemelken“.
       
       Dazu muss man wissen, dass die Bäuerin als mütterliches Prinzip mit der
       Technisierung der Viehhaltung aus dem Kuhstall verdrängt wurde. Dieser
       Prozess begann bereits in den Sechzigerjahren. Man kann deswegen die
       unmenschliche Tat des Schweizer Bauern auch als eine späte
       „Strukturanpassung“ bezeichnen. In der westfriesischen Hauptstadt
       Leeuwarden gibt es im übrigen schon seit 1962 ein Kuh-Denkmal: „Us Mem“
       (Unsere Mutter).
       
       13 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
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