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       # taz.de -- Zwei Jahre Flüchtlingsproteste in Berlin: „Wir wollen leben wie alle anderen“
       
       > Mahamed S. hat eine Odyssee durch Nordafrika und Europa hinter sich. In
       > Berlin beteiligt er sich an den Oranienplatzprotesten. Hier erzählt er
       > seine Geschichte.
       
   IMG Bild: Da ging's los: Flüchtlinge am 6. Oktober 2012 auf dem Oranienplatz in Kreuzberg.
       
       „In Europa, dachte ich, würde ich Demokratie finden. Ich dachte, hier gäbe
       es Recht, Freiheit, Sicherheit.
       
       Ich komme aus dem Tschad, täglich werden dort Menschen ausgeraubt und
       getötet und die Polizei tut nichts. Der Tschad hat Öl, das verkauft das
       Land an die USA und China. Man könnte so viel erreichen mit dem Geld aus
       dem Öl, man könnte das Land aufbauen – aber der Präsident kauft damit
       Waffen, Waffen aus Europa.
       
       Trotzdem habe ich im Tschad lange in Ruhe gelebt. In Moussoro hatte meine
       Familie ein kleines Haus, mein Vater hat in der Hauptstadt N´Djamena für
       die Regierung gearbeitet und gut verdient. Wir hatten ein dermaßen großes
       Auto, wie ich es in Europa noch nie gesehen habe. Ich wurde 1990 als Erster
       geboren und habe noch drei jüngere Schwestern. Die Älteste ist jetzt fast
       18 Jahre alt. Die Anderen... ich weiß nicht mehr, wie alt sie sind. Ich
       habe sie lange nicht mehr gesehen.
       
       Mit vier Jahren bin ich in die Koranschule gekommen, aber ich hatte einfach
       keine Lust darauf. Eine Weile habe ich deshalb bei meinem Onkel gelebt, der
       sollte dafür sorgen, dass ich zur Schule gehe, mein Vater war ja kaum
       zuhause. Mein Onkel war aber nicht besonders streng. Nach drei Jahren habe
       ich die Schule verlassen, ich wollte lieber durch die Stadt streifen, mit
       meinen Freunden spielen, ins Kino gehen. Ich mochte mein Leben, wie es war,
       und ich dachte, es würde so weitergehen. Nie hätte ich mir vorgestellt,
       nach Europa zu kommen.
       
       Dann begann der Bürgerkrieg. Mein Vater schloss sich der Rebellenbewegung
       UFDD an, sie kamen bis zur Hauptstadt, dann wurden sie zurückgeschlagen:
       Frankreichs Militär ist im Tschad stationiert und hat die Regierung
       unterstützt. Die Rebellen waren chancenlos. Daraufhin hat die Regierung mit
       Hausdurchsuchungen nach Menschen gesucht, die die Rebellion unterstützt
       haben. 2008 ist mein Vater umgebracht worden, da war ich 19 Jahre alt.
       Meine Familie ist aus dem Tschad geflohen.
       
       Unser Ziel war der Sudan, aber als junger Mann durfte ich nicht einreisen,
       ich galt als Rebellenkämpfer. Also sind meine Mutter und meine Schwestern
       in den Sudan gegangen und ich habe mich auf den Weg nach Libyen gemacht. 15
       Tage habe ich gebraucht, um die Sahara zu durchqueren. Viele verdursten
       dort. In Libyen habe ich als Gärtner gearbeitet. Ich wollte versuchen, zu
       meiner Familie zu kommen, aber es gab zu viele Grenzkontrollen. Hätten sie
       mich gefasst, wäre ich in den Tschad gebracht worden.
       
       Dann gab es 2011 den Krieg in Libyen. Gastarbeiter aus dem Tschad und dem
       Sudan wurden verfolgt, weil sie für Söldner Gaddafis gehalten wurden. Sie
       wurden einfach auf der Straße ermordet. Selbst die Kinder hatten damals
       Waffen. Ich hatte so große Angst, dass ich mich nicht mehr auf die Straße
       getraut habe. Nachts kam die Polizei in die Häuser der Ausländer und sagte,
       in Libyen gebe es keine Sicherheit für uns, in Europa aber würden wir
       Demokratie finden. Sie haben uns in Boote gesetzt und über das Mittelmeer
       geschickt.
       
       Das Boot, in dem ich saß, war völlig überfüllt und nach kurzer Zeit kaputt.
       Die Leute gerieten in Panik, tagelang haben wir Wasser aus dem Schiff
       geschöpft, bis Fischer uns entdeckt und Hilfe gerufen haben. Wir wurden
       nach Sizilien gebracht.
       
       In Italien habe ich relativ schnell politisches Asyl bekommen. Aber mit den
       Papieren, die ich erhielt, bin ich auf der Straße gelandet. Ich wollte mir
       Arbeit suchen, ohne festen Wohnsitz war das aber unmöglich. Ich schlief in
       Kartons, hatte nichts zu essen. Irgendwann habe ich mich auf den Weg nach
       Paris gemacht, dort habe ich wieder monatelang auf der Straße gelebt, also
       bin ich zurück nach Italien. In Mailand durfte ich 15 Tage bei der Caritas
       schlafen, dann musste ich wieder gehen. Fast den ganzen Winter war ich auf
       der Straße, in der Kälte, im Schnee. Irgendwann dachte ich, dass das doch
       kein Leben ist, dass ich hier sterben werde, und habe versucht, nach
       Norwegen zu kommen.
       
       In Luxemburg wurde ich von der Polizei aufgegriffen und nach Italien
       zurückgeschoben, von dort bin ich wieder nach Frankreich. In Marseille hat
       mich die Polizei zwei Monate ins Gefängnis gesteckt und danach wieder nach
       Italien abgeschoben.
       
       In Deutschland bin ich seit Anfang 2013. In Karlsruhe wurde ich
       aufgegriffen und ins Lager Eisenhüttenstadt gebracht, dort habe ich Asyl
       beantragt. Von Eisenhüttenstadt haben sie mich nach Brandenburg an der
       Havel umverteilt. Im November wurde ich nach Italien abgeschoben, mit Air
       Berlin, um mich herum nur Touristen. Nach drei Tagen im Schnee bin ich
       zurück nach Deutschland.
       
       Zu den Geflüchteten-Protesten bin ich im Sommer letzten Jahres gestoßen.
       Refugeeaktivisten kamen zu uns ins Lager nach Eisenhüttenstadt, gemeinsam
       planten wir eine Demonstration. Ein Freund von mir aus dem Tschad wollte
       eigentlich auch demonstrieren – und hat sich vorher das Leben genommen, er
       hat sich erhängt. Wir haben demonstriert und ich bin bei der Bewegung
       geblieben, auf dem Oranienplatz.
       
       Wir kämpfen dagegen, irgendwo draußen in Wäldern untergebracht zu sein,
       isoliert, ohne Kontakt zu anderen Menschen, wir kämpfen gegen die
       Residenzpflicht und gegen ein Arbeitsverbot. Wir kämpfen, weil wir in den
       Lagern verrückt werden. Wenn ein Brief kommt, weiß man nicht, was einen
       erwartet. Vielleicht die Abschiebung? Wir wollen leben wie alle anderen
       auch. Aber trotz unseres Protest ändert sich nichts für die Geflüchteten.
       Alles, was passiert ist, dass sie neue Lager bauen, neue Gesetze
       verabschieden gegen die Refugees.
       
       Ich bin nicht hierher gekommen, um im Lager zu sitzen. Ich bin nicht hier
       hergekommen, um meine Zeit und mein Leben zu verschwenden. Ich bin nicht
       hier hergekommen, um verrückt zu werden. Was soll ich hier machen? Soll ich
       mich umbringen? Meine Familie lebt inzwischen in Kamerun, ich bin der
       Älteste, ich will meine Schwestern unterstützen. Ich würde gerne etwas über
       Kameratechnik lernen oder Elektriker werden. Und ich dachte, ich kann hier
       eine Bewegung aufbauen, um Veränderungen im Tschad zu erreichen. Aber wie
       soll ich mich darauf konzentrieren, wenn ich in diesen Verhältnissen leben
       muss? Ist das etwa Freiheit? Das ist keine Freiheit, das ist Gewalt.
       
       So lange mein Oranienplatzverfahren lief, war ich in einer Unterkunft in
       Neukölln. Ich habe versucht, deutsch zu lernen, aber ich konnte mich nicht
       konzentrieren, ständig kann die Polizei in die Unterkünfte kommen und Leute
       holen. Ich kam einfach nicht zur Ruhe. Mein Kopf war irgendwo draußen,
       nicht in der Schule.
       
       Berlin sagt, sie sind für mich nicht zuständig, jetzt stehe ich wieder auf
       der Straße. Für eine Weile kann ich in einer kirchlichen Einrichtung
       schlafen, aber nicht lange. Eigentlich soll ich mich in Brandenburg an der
       Havel melden, aber ich habe große Angst, von dort wieder abgeschoben zu
       werden. Der Winter kommt, der Schnee kommt, ich werde nicht auf der Straße
       leben können. Nicht einmal Eure Haustiere schlafen doch draußen.
       
       Ich habe nichts, keine Arbeit. Keine Freunde, viele sind als Rebellen
       gestorben, einige auf ihrem Weg über das Mittelmeer. Ich bin müde.
       
       Vielleicht gehe ich in den Tschad zurück. Was dort passieren wird – ich
       weiß es nicht. Vielleicht nehmen sie mich direkt am Flughafen fest.
       Vielleicht bringen sie mich um.
       
       Vielleicht bleibe ich auch hier in Berlin und kämpfe weiter. Wenn wir
       keinen Ort mehr haben, weil wir aus den Unterkünften geschmissen werden,
       werden wir wieder zurück auf den Oranienplatz gehen.“
       
       Was ist aus den Flüchtlingen geworden, die vor zwei Jahren den Oranienplatz
       in Kreuzberg besetzten? Was ist der Stand der Bewegung? Viele Interviews
       und ein Essay in der Wochenendausgabe der taz.berlin. In Ihrem Briefkasten
       oder am Kiosk.
       
       4 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hilke Rusch
       
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