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       # taz.de -- Kolumne Darum: Freiheit an der Leine
       
       > In Spielen schlüpfen Kühe aus Eiern, in der Realität werden Kinder
       > angebunden. Absurd, klar. Noch absurder geht es in Familien aber woanders
       > zu.
       
   IMG Bild: Die freie Zeit, die einem die Kinder lassen, könnte man in der Hängematte verbringen. Aber da liegt schon ein Kind drin.
       
       Es ist eine seltsame Welt, die aus den digitalen Spielen unserer Kinder
       herausschaut. In „Minecraft“ schlüpfen Kühe aus Eiern. In „Civilization
       Revolution“ kämpft der Sohn als deutscher König Bismarck mit Panzerarmeen
       gegen atztekische Bogenschützen. Die Tochter startet „Sims 3“ und „gründet“
       erstmal eine Mutter. Kinderspiele sind absurd? Ja, sicher.
       
       Die Welt der Erwachsenen kann locker mithalten. Neulich las ich in der taz
       über [1][eine skurrile Debatte]. Immer mehr Eltern kleiner Kinder scheinen
       vom Bedürfnis getrieben, ihre Kinder an der Straße anzuleinen, damit ihnen
       nichts passiert.
       
       Haben sie keine Hände, die sie den Kindern reichen können, um gemeinsam
       über die Straße zu gehen? Oder sind die Hände mit Smartphone und Latte
       Macchiato stets belegt, sodass sich die Leinenpflicht von selbst ergibt?
       Nichts als dämliche Stereotype, mag hier ein Leinenfreund einwenden, „ich
       habe drei Kinder, aber nur zwei Hände!“ Nun ja, die Kindergärtnerin, die
       einen Ausflug mit zwölf Kindern macht, hat auch nur zwei Hände und leint
       trotzdem niemanden an.
       
       Im Grad der Absurdität reichen weder die Leinendebatte noch „gegründete
       Mütter“ an das heran, was unseren Alltag mit Kindern prägt. Stets ist alles
       neu, alles anders, jeder spontane Impuls zieht Folgen nach sich. Ein
       begeisterter Fußball-Torwart wirft plötzlich hin und geht fortan zum
       Schach- und Fechttraining. Man selbst hat länger gebraucht, um sich auf die
       Atmosphäre am Rand eines Fußballfelds einzustellen; alles Gelernte – laut
       ins Spiel rufen, über den Schiedsrichter schimpfen – ist beim ersten
       Schachturnier kontraproduktiv.
       
       ## Die neuen Freiheiten
       
       Eine begeisterte Schwimmerin will am Mittelmeer lieber über den
       Nahostkonflikt diskutieren als ins Wasser zu gehen. Wir sind vorgewarnt:
       Die Präpubertät beutelt sie nach Kräften. Doch das Kind macht sich einfach
       nichts daraus, bleibt gut gelaunt. Wie soll man damit nun wieder umgehen?
       Anderswo wird das Fechten wieder abgebrochen. Nun ist Skaten dran. Oder
       doch wieder Fußball?
       
       In all diesem Hin und Her geht fast unter, dass die Kinder uns immer
       weniger brauchen. Zwar sind Fahrdienste zu einer ranzigen Schulaula oder
       einer muffigen Turnhalle immer noch Pflicht, aber nicht mehr lange. Die
       Zeiten, in denen beide Kinder überall hin begleitet werden mussten, sind
       längst vorbei. Die Zeiten, in denen beide Kinder zumindest noch Zuspruch
       und Anteilnahme an ihren Aktivitäten einforderten, gehen gerade zu Ende.
       Die Zeiten, in denen vieles an uns Eltern vorbeiläuft, beginnen gerade.
       
       Das fühlt sich gut an. Denn es klingt nach neuen Freiheiten, die uns
       zufallen. Spontane Verabredungen sind wieder möglich, neue Sportarten
       können entdeckt – dieses Fechten, wäre das nichts für mich? –, alte
       Leidenschaften neu belebt werden. Doch ich bleibe passiv.
       
       Fast 13 Jahre elterliche Pflichten lassen sich nicht einfach so
       abschütteln. Und wer weiß, vielleicht kommt ja bald ein Rollback und die
       Kinder wollen permanent an der Leine ausgeführt werden. Bis dahin aber
       haben wir Eltern plötzlich wieder Zeit – und wissen sie nicht zu nutzen.
       Wie absurd ist das denn?
       
       20 Oct 2014
       
       ## LINKS
       
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