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       # taz.de -- Proteste in Hongkong: Die perfekte Welle
       
       > Sie sammeln Müll, ihr Wasser ist gekühlt und die Stimmung fast
       > ausgelassen: Aus einzelnen Protestaktionen ist eine stadtweite Bewegung
       > geworden.
       
   IMG Bild: „Sehen so Radikale, Extremisten und Gewalttäter aus?“ Selbst chinesische Medien sind verwirrt
       
       HONGKONG taz | Liem Tai ist empört. „Schauen Sie sich doch um“, sagt der
       21-Jährige und zeigt auf die vielen jungen Leute, die auf dem Boden einer
       Zufahrtsstraße sitzen und sich angesichts der brütenden Nachmittagshitze
       gegenseitig Luft zu fächern. Die Stimmung wirkt dennoch ausgelassen. Einige
       von ihnen spielen Karten, viele mit ihren Smartphones, eine Schülerin hockt
       auf dem Boden und macht ihre Hausaufgaben.
       
       Die meisten halten sich mit süßen Snacks bei Laune. Helfer verteilen
       Wasserflaschen, in Folie verpackte beschmierte Brote und Kuchen. Andere
       laufen mit großen schwarzen Plastikmüllsäcken herum. Sie haben weiße
       Gummihandschuhe an und sammeln mit metallenen Greifern jeden kleinen
       Papierschnipsel und sogar ausgespuckte Kaugummis von der Straße. „Sehen so
       Radikale, Extremisten und Gewalttäter aus?“ fragt Liem Tai.
       
       So zumindest werden in den chinesischen Staatsmedien derzeit die
       Demonstranten in Hongkong bezeichnet. Seit Sonntag blockieren Zehntausende
       Hongkonger mehrere Geschäftsviertel der Sieben-Millionen-Metropole, unter
       anderem auch das Regierungs- und Finanzviertel im Stadtteil Central. Sie
       würden die „Harmonie und Stabilität“ Hongkongs und des ganzen Landes
       gefährden, schreibt etwa die in Peking erscheinende Global Times. Die
       chinesische Führung selbst verurteilte die Demonstrationen in Hongkong als
       „illegale Versammlungen“, die die „Rechtsstaatlichkeit untergraben“ und den
       „sozialen Frieden“ gefährden.
       
       ## Von Chaos keine Rede
       
       „Der Autoverkehr ist in Central tatsächlich seit einigen Tagen zum Erliegen
       gekommen“, sagt Liem Tai. Doch dies sei ohne das Zutun der Demonstranten
       erfolgt. Vielmehr habe die Stadtverwaltung schon vor Beginn der Proteste
       den Verkehr vorsorglich umgeleitet und die Verwaltungsangestellten gebeten,
       nur noch mit der U-Bahn zur Arbeit zu kommen. Daran hätten sich die meisten
       auch gehalten. Von Chaos könne keine Rede sein, sagt Tai und schmunzelt.
       „Hongkong ist wie immer perfekt organisiert.“
       
       Und das betrifft auch den Protest. Ordner laufen nicht nur regelmäßig mit
       Mülltüten herum. An jeder Ecke gibt es Stände mit kistenweise Getränke,
       Brot und Obst – alles gespendet, sagt Tai. Die Organisatoren hätten
       inzwischen sogar darum gebeten, dass nicht mehr so viel Verpflegung
       herangeschafft wird, damit es nicht in der Hitze vergammelt. Es gibt
       Krankenstationen, mobile Toiletten, Smartphone-Aufladestationen. Helfer
       laufen mit Sprühflaschen durch die Menge und benieseln die Blockierer mit
       gekühltem und mit Lemongras parfümiertem Wasser. Wiederum andere verteilen
       nasse Waschlappen, damit sich die Demonstranten zwischendurch waschen
       können.
       
       Aus der eigentlich vorgesehenen Aktion, mit „Occupy Central“ lediglich den
       Verkehr des Finanz- und Regierungsviertels lahmzulegen, ist am dritten
       Protesttag eine stadtweite Bewegung geworden. Am Dienstagmittag saßen
       Tausende Demonstranten nicht nur in Central auf der Straße, sondern auch im
       beliebten Einkaufs- und Geschäftsviertel Causeway Bay, ebenso im
       Geschäftsviertel in Mongkok auf der gegenüberliegenden Halbinsel Kowloon
       und in mindestens drei weiteren Stadtteilen.
       
       ## Wahlfarce befürchtet
       
       Sie alle fordern von der kommunistischen Führung in Peking freie Wahlen,
       die die Bezeichnung auch verdienen. Die Bürger der ehemaligen britischen
       Kronkolonie hatten nach der Rückgabe an die Volksrepublik im Jahre 1997 von
       Peking die Garantie erhalten, weitere 50 Jahre an ihrem bisherigen System
       festhalten zu dürfen, das Versammlungsfreiheit ebenso weiter vorsieht wie
       das Recht auf freie Meinungsäußerung.
       
       Für das Jahr 2017 hatte Peking versprochen, dass die Hongkonger ihren
       Regierungschef erstmals direkt wählen dürfen. Doch im August präzisierte
       die kommunistische Führung ihre Vorgaben: Die Zahl der Kandidaten ist auf
       maximal drei minimiert, die allesamt von Peking vorher selektiert werden.
       Eine Farce. Seitdem tobt in Hongkong der Protest.
       
       In Central sind es an diesem späten Dienstagnachmittag vor allem Schüler
       und Studenten, die auf den Straßen sitzen. Vermutlich Zehntausende. Die
       meisten Schulen in den betroffenen Stadtvierteln haben seit Montag
       geschlossen, die Studenten fast aller Hongkonger Hochschulen befinden sich
       bereits seit anderthalb Wochen im Streik. Es sind junge Leute wie die
       17-jährige Tan Tan.
       
       ## „Wir mögen es verspielt“
       
       Wie die meisten ihrer Mitstreiter trägt sie ein schwarzes T-Shirt. Militant
       sieht sie aber nicht aus. Im Gegenteil: Auf dem T-Shirt prangt „Angry
       Bird“, die Animationsfigur des gleichnamigen berühmten Smartphone-Spiels.
       Andere tragen T-Shirts mit Hello Kitty, Superman oder dem alten Jedi
       Meister Yoda. „Wir Hongkonger mögen es halt verspielt“, sagt sie.
       
       Und ebenso wie fast alle auf dem Platz hat auch Tan Tan sich eine gelbe
       Schleife an die Brust geheftet, dem Symbol für Solidarität. In Hongkong
       steht es seit Ausbruch der Proteste zusätzlich für Demokratie und freie
       Wahlen. „Wir wissen doch, was für ein korruptes System in China herrscht
       und wie die Menschenrechte mit Füßen getreten werden“, sagt Tan Tan. „Ich
       habe Angst, dass Hongkong auch so wird.“
       
       Am Sonntagabend war es zu den bislang gewalttätigsten Auseinandersetzungen
       gekommen. Sondereinheiten der Hongkonger Bereitschaftspolizei wollten die
       seit dem frühen Morgen anhaltende Blockade im Finanzviertel auflösen.
       Zunächst sei es nur zu vereinzelten Rangeleien gekommen, berichtet Tan Tan,
       die zum ersten Mal im Leben an einer Sitzblockade teilnahm und überhaupt
       eine solche Konfrontation miterlebte. Doch dann seien die Beamten immer
       ruppiger geworden.
       
       ## Statt Regen Pfefferspray
       
       „Ich konnte kaum atmen, als ein Polizist sein großes Plastikschild gegen
       meinen Kopf presste“, erzählt sie. Später kamen auch Pfefferspray und
       Tränengas zum Einsatz. Erschrocken hatte sich Tan Tan mit ihrer Freundin zu
       diesem Zeitpunkt bereits in eine nahe gelegene McDonalds-Filiale gerettet.
       Sie verfolgte das rüde Vorgehen der Polizei live auf dem Bildschirm ihres
       Smartphones weiter. Viele Demonstranten hatten allerdings Regenschirme
       dabei und spannten sie auf, um sich gegen das Pfefferspray zu schützen.
       Diese Bilder gingen in den sozialen Medien um die Welt. Seitdem trägt der
       Protest in Hongkong auch den Namen „Regenschirmrevolution“.
       
       Seit Montag hat sich die Polizei zurückgezogen. Entsprechend ausgelassen
       ist die Stimmung seither. Lediglich vor dem gigantischen Verwaltungsgebäude
       der Hongkonger Regierung stehen hinter einem Absperrgitter drei
       gelangweilte Polizisten und sorgen dafür, dass kein Demonstrant das
       Regierungsgebäude betritt. Denn auch dazu war es am Wochenende gekommen.
       Ein paar Studenten hatten versucht, das Gebäude zu betreten und dort eine
       Sitzblockade zu beginnen. Die meisten von ihnen wurden festgenommen.
       
       In genau diesem Gebäude sitzt auch an diesem Dienstag Regierungschef Leung
       Chun Ying. Spätestens seit dem Polizeieinsatz vom Sonntag sind seine
       ohnehin geringen Beliebtheitswerte noch weiter gesunken. Sich direkt der
       Menschenmenge zu zeigen – das traut er sich nicht. Sein Gesicht ist bei der
       Blockade dennoch überall zu sehen: mal mit Vampirzähnen, mal als
       Panzerfahrer – unter einem Bild steht sein Geburtsdatum, mit Filzstift hat
       jemand sein Todesdatum hinzugefügt, datiert auf das Jahr 2014.
       
       ## Ultimatum verlängert
       
       Vor der Presse lässt sich der Regierungschef hingegen regelmäßig blicken.
       Und da ist von seiner anfänglichen Zurückhaltung und Besonnenheit nicht
       mehr viel zu spüren. Im Gegenteil: Bei der Pressekonferenz am
       Dienstagvormittag wettert er heftig gegen die Demonstranten und fordert ein
       „sofortiges Ende“ der Proteste. Er deutet zudem einen hartes Kurs an:
       Peking werde nicht einlenken, wiederholt er mehrfach.
       
       Die Organisatoren von Occupy Central haben wiederum dem Regierungschef ein
       Ultimatum gestellt. Sie fordern seinen Rücktritt. Sollte dies und die
       Rücknahme der Wahlreform bis Mittwoch nicht geschehen, wollen sie die
       Proteste noch weiter ausweiten.
       
       Liem Tai ist fest davon überzeugt, dass es genau dazu kommen wird. Und zwar
       bereits am Mittwoch. Denn da ist in ganz China Nationalfeiertag, der in
       diesem Jahr an die Ausrufung der Volksrepublik vor 65 Jahren erinnert. „Das
       wäre doch bedauerlich, wenn wir diesen Tag hier in Hongkong ignorieren
       würden“, sagt Tai und lächelt verschmitzt.
       
       30 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Felix Lee
       
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