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       # taz.de -- 80. Geburtstag von Udo Jürgens: Sünder ohne Sünde
       
       > In gewisser Weise war – und ist – Udo Jürgens ein Opportunist im Weinberg
       > des Zeitgeistes. Nun wird der Sänger 80 Jahre alt.
       
   IMG Bild: Beim Grand Prix Eurovision de la Chanson 1966: Udo Jürgens gewinnt mit „Merci Chérie“ in Luxemburg.
       
       Willy Brandt hat seine Lieder gern gemocht, gelegentlich war Udo Jürgens
       ein gern geladener Gast bei Partys des Kanzlers der ersten sozialliberalen
       Koalition.
       
       [1][„Und immer wieder geht die Sonne auf“], [2][„17 Jahr’, blondes Haar“],
       [3][„Mathilda“] auf Deutsch, „Cottonfields“, [4][„Es wird Nacht, Señorita“]
       oder [5][„Anouschka“] – das waren vielleicht nicht die Lieder radikaler
       Studenten Ende der sechziger Jahre, aber die der Politiker jener Jahre
       schon, ein wenig frivol, gelegentlich mit Swing, immer mit einer gewissen
       Lebensfreude, die nicht ins Vulgäre schwappte: Dieser Sänger verkörperte
       weder die Bratenrockästhetik der Konservativen noch die Schunkelfreude der
       Schlagerleute jener Jahre.
       
       Udo Jürgens, das war in jener Zeit wahnsinnig cool. Ist schwer vorstellbar
       heute, aber Udo Jürgens war in einigen Jahren bei weiblichen Teenagern die
       begehrenswerteste Figur – anders als sein Generationskollege Roy Black
       schien dieser Mann am Piano kein „Ganz in Weiß“ zu verheißen, sondern
       irgendwie das Abenteuerliche, und sei es eine Verführung nur bis zum
       nächsten Morgen. „Udo live“, 1969 erschienen, war die angesagte Platte bei
       jenen, die weder etwas mit Rock oder sonst wie Lautem anfangen konnten,
       aber bei gewisser Gepflegtheit nicht verblödet werden wollten.
       
       Udo Jürgens – der von deren LeserInnen des Jugendnachrichtenmagazins Bravo
       mit dem „Otto“ ausgezeichnet wurde, 1967 (in Bronze) und 1969 (in Silber) –
       war da schon längst kein junger Hüpfer mehr, eher ein Mann von Mitte
       dreißig, der irgendwie in letzter Sekunde den Sprung aufs echte
       Karrierebrett noch schaffte. Da war er mehr als zehn Jahre als Musiker
       unterwegs, spielte sich durch Bars und Clubs, sollte irgendwie wie Peter
       Alexander singen und wollte dies nicht.
       
       Hans R. Beierlein, Medienmogul, entdeckte sein Potenzial und verordnete
       seinem Schützling eine Kur in Mainstreaming. Es war eine Zeit, in der das
       Existenzialistische die Modephilosophie der Stunde abgab, Paris ihr Mekka –
       Authentizität, sei du selbst, zeige, was deine Botschaft ist.
       
       ## Abstand von Pantoffelkultur und Provinzialität
       
       Ungefähr so muss man sich das Credo des zeitgeistschnüffelnden Beierlein
       vorstellen – und förderte Udo Jürgens, nur noch eigene Kompositionen zu
       interpretieren. Geschichten zu erzählen, sentimentale, ironische und
       ernsthafte, als berichte er aus seinem Leben, keine Märchenwelten wie im
       Schlager. Und er sollte zugleich Abstand nehmen vom Schunkelseligen, von
       Pantoffelkultur und Provinzialität.
       
       Diese Fahrkarte über den nationalen Kiez hinaus hatte Jürgens beim
       Eurovision Song Contest zu lösen; erst beim dritten Versuch, 1966 in
       Luxemburg, gelang es mit [6][„Merci Chérie“] zu gewinnen. Französisch
       timbriert, das Chansonhafte gebend – das war für deutschsprachige
       Verhältnisse ungewöhnlich und wider die Marktverhältnisse im Popbereich der
       Bundesrepublik.
       
       Aber das Programm hieß: Das Publikum über sachte Dissidenz zu gewinnen –
       Affirmation, wenn man in linker Sprache es haben möchte, war nicht mehr die
       Haltung der Stunde. Beierleins Haltung in einem Wort: „Dem Publikum muss es
       gefallen, nicht dem Sänger allein.“ Bis in die späten Sechziger fuhr
       Jürgens international – Hits, Auftritte, Platten in den Niederlanden,
       Italien, Frankreich, Kanada und Japan. Eine Internationalität, die ihm
       freilich jene Glaubwürdigkeit bescherte, auf die es in den folgenden
       Jahrzehnten entscheidend ankam. Udo Jürgens – so sagt es Hape Kerkeling in
       dem TV-Porträt „Der Mann, der Udo Jürgens ist“ zutreffend – verkörpere den
       „Soundtrack der Bundesrepublik“.
       
       Das heißt in Titeln: [7][„Lieb Vaterland“] (gegen das nationalkonservative
       Verständnis von Militär und dem eigenen Land), [8][„Griechischer Wein“]
       (Multikulti-Statement vor der Zeit), [9][„Aber bitte mit Sahne“] (gegen die
       Völlerei schlechthin) und [10][„Ein ehrenwertes Haus“] (gegen giftige
       Nachbarschaften und Bohnerwachsspießigkeit). Wobei Udo Jürgens mit keinem
       seiner Titel Avantgarde oder türöffnend war. Alles, was er – die Texte
       schrieb ihm überwiegend der kongeniale Michael Kunze – auszusagen wusste,
       brachte nur den Wuchs eines bundesdeutschen Konsenses zum Ausdruck: fiese,
       hinter Topfalpenveilchen lauernde, nichteheliche Verhältnisse petzende
       Ungünstlinge gibt es überall; man darf auch mal über die Stränge schlagen;
       Krieg ist Mist und gehört abgeschafft, Nazis sind noch mistiger und müssen
       geächtet werden.
       
       ## Das Großkotzige war nie seine Sache
       
       Die Geschichte mit den Nazis ist ihm freilich ein besonderes Anliegen.
       Selbst noch unter braunen Verhältnissen aufgewachsen, geschurigelt und
       gehänselt von Klassenkameraden, die dem eher schmächtigen Udo Jürgen
       Bockelmann das Leben zur Hölle machten, hat dieser Entertainer die Kinder
       des „Führers“ gehasst. Es ging bis in seine Körpersprache, man kann sie bei
       jedem Konzert studieren: Die Pose des „Ich bin der Größte“ ist ihm fremd,
       das Großkotzige, Grölende, Indezente war nie seine Sache. Politisches
       agitatorischen Stils war trotzdem nicht sein Ding, er war und ist
       vielleicht eher ein Verführer zum privaten Glück.
       
       Gelegentlich lag er fürchterlich schief mit der Einschätzung dessen, wofür
       er sich in alten Tagen nicht schämen muss. Zur Fußball-WM 1978 in
       Argentinien schrieb er der DFB-Auswahl ein Album: [11][„Buenos Dias,
       Argentina“] zählt zu den schlimmen Sündenfällen – Udo Jürgens als
       ästhetischer Beiträger (mit der DFB-Nomenklatur) zu einem Sportereignis,
       das der Militärjunta imagemäßig mit aufhalf.
       
       In den achtziger Jahren begann allmählich seine Kanonisierung, obwohl seine
       Hitproduktion kein Ende nahm. Zwei Lieder stechen aus jener Zeit hervor –
       [12][„Paris, einfach nur so zum Spaß“] aus dem Jahre 1980, das das
       hippieske Moment („Trau dich, brich mit den Gewohnheiten“) seines
       Weltverständnisses stark machte. Und 1982 schließlich das heutzutage
       bekannteste Lied: [13][„Ich war noch niemals in New York“] – eine Ode gegen
       die Routinen des Alltags, der Ehe, der Treue, des Wiederaufbruchs, der, nun
       ja, Liebe. Es war das prominenteste Couplet eines ihm gewidmeten Musicals.
       
       Udo Jürgens war noch keineswegs willig, in Pension zu gehen. Weshalb auch?
       Seine Tourneen – ausverkauft; seine Anhängerschaft, wie eh und je
       hauptsächlich die weibliche – treu bis zur Religiosität. Wobei gerade bei
       den Fans nicht unerheblich ins Gewicht fiel, dass alle Welt wusste, dass in
       erotischer Hinsicht dieser Mann für das Monogame nicht geschaffen war: Udo
       – der unverspannte Sünder ohne Sünde.
       
       ## Opportunist mit Eigensinn
       
       In gewisser Weise war – und ist – Udo Jürgens ein Opportunist im Weinberg
       des Zeitgeistes. Wenngleich einer mit erheblichem Eigensinn. Religion, egal
       welche, aber besonders die katholische? Nicht seine Sache, so überhaupt
       nicht. Es gebe ein Leben auf dieser Welt, das kann gelebt, heißt: genossen
       werden. Insofern gibt er den Sänger des deutschen Einverständnisses mit den
       Verhältnissen, die mit ihm, so darf das Publikum mit fantasieren,
       freisinniger wurden. Soldatische Verhältnisse haben keinen Platz, die
       kleinen Welten der Bürger im Privaten wollen nicht ins Radikale aufgeheizt
       werden, damit hat man schlechte Erfahrungen gemacht.
       
       Hin und wieder verkennt er die Atmosphäre des Aktuellen. Als er etwa die
       österreichische Dragqueen Conchita Wurst als irrig und unseriös abtat – um
       nach deren Sieg beim Eurovision Song Contest ihr hohes performatives und
       musikalisches Vermögen freundlich zu attestieren.
       
       Aber was für eine Pointe, das jüngst erschienene Album „Mitten im Leben“ zu
       betiteln. Er findet das selbst „idiotisch“, er wisse ja, dass er dort nicht
       stehe und dem Tod näher ist als jeder Lebensmitte. Aber er fühle sich nicht
       alt, innerlich, sagt er den TV-Reportern Hanns-Bruno Kammertöns und Michael
       Wech gegenüber.
       
       Was bleibt? „Solang der Tag nicht da ist, hau ich rein.“
       
       Update, 22.12.2014: In einer früheren Version dieses Beitrags wurde das
       Erscheinungsjahr von „Ich war noch niemals in New York“ fälschlicherweise
       mit 2001 angegeben. Wir danken für die freundlichen Leserhinweise auf
       diesen Fehler.
       
       30 Sep 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.youtube.com/watch?v=7mtyGKTCY6o
   DIR [2] http://www.youtube.com/watch?v=2-g7bDHHEnA
   DIR [3] http://www.youtube.com/watch?v=nNXI64H37qQ
   DIR [4] http://www.youtube.com/watch?v=sLXQJEDOHXA
   DIR [5] http://www.myvideo.de/watch/9442512/Udo_Juergens_Anuschka_1969
   DIR [6] http://www.youtube.com/watch?v=m1xYbeLpmyI
   DIR [7] http://www.youtube.com/watch?v=rk5bKliyT0Y
   DIR [8] http://www.youtube.com/watch?v=55HcPt_pcGc
   DIR [9] http://www.youtube.com/watch?v=JSpx8Hccv4k
   DIR [10] http://www.youtube.com/watch?v=WfP0RB1O1Lg
   DIR [11] http://www.myvideo.de/watch/8391794/Udo_Juergens_Buenos_Dias_Argentina_1978
   DIR [12] http://www.youtube.com/watch?v=DdRKZYRnnYc
   DIR [13] http://www.youtube.com/watch?v=uLdWq4vXlW8
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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