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       # taz.de -- Psychiatrische Gutachten: Fangfragen für Simulanten
       
       > Forscher arbeiten an neuen Tests, um das Vortäuschen von psychischen
       > Beschwerden zu enttarnen. Versicherer wollen damit Rentenanträge
       > überprüfen.
       
   IMG Bild: In den Kopf hineinschauen kann man zwar, aber vieles ist nicht zu erkennen
       
       BERLIN taz | Die Fragen in dem Test klingen harmlos: „Am besten fühle ich
       mich morgens nach einem guten Schlaf, obwohl ich die meiste Zeit depressiv
       bin.“ Der Proband muss ein „ja“ oder ein „nein“ ankreuzen. Wer ein „ja“
       markiert, gerät aber in Verdacht, als Täuscher dazustehen. Denn klinisch
       Depressive schlafen eher schlecht und erleben oft am Morgen ihr schlimmstes
       Tief.
       
       Die Fragen gehören zu einem Test, dem sogenannten Strukturierten Fragebogen
       Simulierter Symptome (SFSS). Der Fragebogen wird von manchen Psychiatern
       eingesetzt, die Patienten wegen ihres Antrags auf eine Erwerbsminderungs-
       oder Berufsunfähigkeitsrente begutachten sollen.
       
       Dabei geht es darum, mögliche Simulanten oder Aggravierer – das sind Leute,
       die ihr Leiden übertreiben – herauszufiltern. Die Screenings gewinnen an
       Bedeutung, da die Zahl der Anträge auf vorzeitige Renten wegen psychischer
       Leiden zunimmt.
       
       „Ein Test wie der SFSS kann aber keinesfalls Depressionen oder
       Angststörungen diagnostizieren“, stellt Axel Kobelt klar. Er ist
       Reha-Experte bei der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover.
       Der Test könne nur dazu beitragen, auf Widersprüchlichkeiten und
       Inkonsistenzen in den Aussagen der Patienten hinzuweisen.
       
       Die Tests arbeiten dabei mit Fangfragen, „verdeckter Leichtigkeit“ und der
       Verführung zu Extremaussagen. Wer beispielsweise mit der U-Bahn problemlos
       zum Gutachter hingefunden hat, aber dann im SFSS bei dem Satz „die
       Hauptstadt von Italien ist Ungarn“ ein „ja“ ankreuzt, um als besonders
       verrückt durchzugehen, enttarnt sich selbst als Täuscher. Denn einigermaßen
       orientierte Menschen wissen natürlich, dass Ungarn keine Stadt ist.
       
       Wer bei dem Item „Wenn ich Stimmen höre, fühlt es sich an, als würden meine
       Zähne aus dem Körper heraustreten“ ein „ja“ markiert, um psychotisch zu
       wirken, ist auch nicht gerade glaubwürdig. Denn es ist höchst
       unwahrscheinlich, gleichzeitig Stimmen zu hören und das Gefühl zu haben,
       dass die Zähne irgendwo aus dem Körper austreten, was außerdem kein
       „Gefühl“, sondern eine optische Halluzination wäre.
       
       Aggravierer werden durch den Test verleitet, vermeintliches Volkswissen
       über psychische Erkrankungen anzubringen, das aber klinisch nicht stimmt.
       Wer etwa bei dem Item „Je depressiver ich bin, umso mehr möchte ich essen“
       ein „ja“ ankreuzt, um eine Depression glaubhaft dazustellen, gerät in den
       Verdacht der Täuschung. Denn hoch Depressive haben meist keinen Appetit.
       
       Kobelt, der auch an der Universität Bremen lehrt, hat die
       „Beschwerdenvalidierung“ unter psychosomatisch Erkrankten an einer Klinik
       erforscht und dabei den SFSS und weitere Tests herangezogen. Etwa ein
       Viertel der Getesteten zeige eine „negative Antwortverzerrung“, also eine
       unglaubhafte Beschwerdendarstellung, berichtet der Psychologe.
       
       ## Ungünstige Erwerbsprognosen
       
       Patienten mit dieser „invaliden Symptomdarstellung“ waren aber auch
       klinisch stärker belastet, litten stärker unter depressiven Störungen und
       hatten eine ungünstigere Erwerbsprognose sowie längere Krankheitsphasen
       hinter sich.
       
       Die Frage, ob ungünstige Werte im SFSS nur auf eine bewusst gesteuerte
       Selbstdarstellung oder nicht auch auf eine besonders starke Belastung der
       Betroffenen hindeuten, lässt Kobelt daher lieber offen.
       
       „Nur weil ein Patient seine Beschwerden besonders dramatisch darstellen
       will und damit vielleicht unglaubhaft wirkt, heißt das nicht, dass er nicht
       massiv unter seiner Erkrankung leidet“, gibt der Forscher zu bedenken.
       
       Kobelt arbeitet derzeit mit Kollegen an einem neuen Test zur
       Beschwerdevalidierung, der den SFSS im nächsten Jahr ablösen soll. Der neue
       Test soll die dargestellten Beschwerden noch genauer mit dem
       wissenschaftlich erforschten Krankheitsbild abgleichen.
       
       ## Ein Ärgernis für Sozialmediziner
       
       Näheres will Kobelt nicht verraten. Denn das Coaching von Patienten, deren
       Anwälte ihnen vor einer Begutachtung die Tests schon mal zeigen, ist ein
       Ärgernis für manche Sozialmediziner.
       
       Begutachtende Psychiater sind aber nicht verpflichtet, den SFSS zu nutzen.
       „Wir setzen solche Tests nicht routinemäßig ein“, berichtet der Psychiater
       Michael Linden, Leiter eines Reha-Zentrums der Rentenversicherung in Teltow
       bei Berlin, „ein fachkundig geführtes mehrstündiges Gespräch ist viel
       aufschlussreicher als jeder Test.“
       
       Sozialrechtsanwälte warnen davor, dass Versicherer die Tests benutzen
       können, um Rentenbegehren abzuwehren. In der privaten
       Berufsunfähigkeitsversicherung etwa haben die Rentenbegehren wegen
       psychischer Erkrankungen explosionsartig zugenommen – ein Trend, der die
       Versicherungswirtschaft beunruhigt. Nervenkrankheiten stellen inzwischen
       die häufigste Diagnosegruppe bei Anträgen auf private
       Berufsunfähigkeitsrenten dar. Ihr Anteil liegt bei 31 Prozent dieser
       Anträge und hat sich seit 2005 verdoppelt.
       
       ## Auswertung macht der Computer
       
       Versicherer schicken die Antragssteller daher oftmals zu Psychiatern, die
       Tests anwenden, durch die Simulation und Aggravation festgestellt werden
       sollen. „Die Gutachter lassen die Rohwerte der Tests durch den Computer
       auswerten und behaupten dann schnell, dass es sich um einen Simulanten
       handelt“, berichtet Jörg Büchner, Fachanwalt für Versicherungsrecht in
       Berlin. Büchner vertritt die Versicherungsnehmer und sieht die
       Beschwerdevalidierungstests sehr kritisch: „Diese Tests können kein
       Scheidekriterium sein zwischen Simulanten und tatsächlich Kranken.“
       
       Dabei sind auch die persönlichen Begutachtungen durch Psychiater sehr
       fehleranfällig, denn dabei spielen das Können, die Erfahrung, der
       Zeitaufwand und die Abneigungen des Mediziners eine große Rolle. „Urteile
       der Gutachter können sehr voneinander abweichen“, sagt Kobelt, „da vermögen
       ergänzende Tests schon auch Objektivität hineinzubringen.“
       
       26 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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