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       # taz.de -- Kriegstagebuch aus dem Irak: „Der Kampf wird richtig global“
       
       > Isis ist nicht die einzige mordende Miliz im Irak und die Golfstaaten
       > mischen eifrig mit: dritter Teil eines Austauschs über Facebook.
       
   IMG Bild: Während Najem Walis Gesprächspartnerin in Bagdad auf Facebook postet, explodieren in der Stadt Autobomben – Bild vom 10. September 2014.
       
       Posting Nummer 1 – Bagdad, 4. August: „Das gestrige Foto aus al-Kadhimiya
       (einem Vorort von Bagdad, wo sich die Gräber zweier Imame der
       Zwölferschiiten befinden, des 7. Imams Musa al-Kadhim und des 9. Imams
       Mohammed al-Taqi, d. A.) war herzzerreißend und schmerzhaft. Dutzende
       Familien, Kinder, alte Männer und Frauen wurden aus ihren Häusern und
       Vierteln vertrieben. Herausgerissen aus ihrem Leben und ihren Träumen, auf
       der Flucht, um ihre nackte Haut zu retten. Es erinnert mich an das Jahr
       1991, den Aufstand gegen das Saddam-Regime. Damals war ich noch eine
       Schülerin, als mir plötzlich die Bedeutung einer militärischen Meldung klar
       wurde. ’Unsere Truppen haben feindliche Stellungen bombardiert und dem
       Feind empfindliche Verluste beschert‘, meldete damals das Saddam-Regime. In
       die Tankstelle neben unserem Haus in Hila, wo ich mit meiner Familie
       wohnte, hatte eine Rakete eingeschlagen. Auch unser Haus hat gebebt. Iraker
       sind es gewohnt, Häuser, Träume und Heimat in einem Moment zu verlieren.
       Wie soll man ohne Hoffnung und Illusionen leben?“
       
       Posting Nummer 2 – 14. August: „Ein Gefühl von Enttäuschung, Zweifel und
       Hilflosigkeit stellt sich ein, wenn der Mensch um sich herum nichts als
       Zerstörung sieht. Der Boden scheint unter dir nachzugeben, du hängst
       buchstäblich in der Luft. So fühle ich mich gerade, und wie ich wohl die
       Mehrheit der Iraker.“
       
       Posting Nummer 3 – 16. August: „Ich glaube, dass alle wissen (egal wie dumm
       jemand ist!), dass hinter der die Region heimsuchenden Verwüstung die
       beduinischen Machthaber in Saudi-Arabien und den Golfländern stecken. Sie
       wollen damit jene Zentren zerstören, die einen Schimmer an Hoffnung
       ausstrahlen. Diese Regionalmächte machen keinen Hehl aus ihrer Verschwörung
       und können sich dabei auf ihre Wirtschafts- und Medienmacht stützen. Das
       Königreich Saudi-Arabien überzieht die Region seit vierzig Jahren mit
       seiner Propaganda wie ein medialer Oktopus, mit lokalen Tentakeln aus einem
       Heer gekaufter Lobbyisten und Journalisten.“
       
       Posting Nummer 4 – 20. August: „Isis spricht Chinesisch. Es soll
       tatsächlich chinesische Krieger bei Isis geben. Das haben gestern
       Flüchtlinge, die aus Dijala kamen, erzählt. Jetzt wird der Kampf richtig
       global. Oder surreal?“
       
       Am 21. August veröffentlicht unsere Frau in Bagdad drei Fotos von drei
       bewaffneten Frauen. Eines zeige eine Jesidin in Sindschar, eines eine
       Schiitin in Amerli und das dritte eine Sunnitin in al-Anbar. Alle drei
       seien im Kampf gegen Isis gefallen. Ihr Facebook-Eintrag preist sie als
       Märtyrerinnen.
       
       Posting Nummer 5 – 26. August: „Wieder gibt es Videos von einer
       Enthauptung. Ein US Journalist, namens James Foley. Wie in der Zeit von
       al-Qaida und al-Sarkawi. Widerlich! Aus welchem Holz sind diese
       Massenmörder geschaffen?“
       
       Posting Nummer 6 – 31. August: „Eine gute Nachricht: Die irakischen
       Streitkräfte haben zusammen mit freiwilligen Kämpfern die wochenlange
       Belagerung von Amerli durchbrochen und Isis zurückgeschlagen.“
       
       Posting Nummer 7 – 31. August: „Eine Frage stellt sich: Wieso konnte eine
       so kleine Stadt wie Amerli (mit ca. 40.000 Einwohnern) wochenlang
       Widerstand gegen den Isis-Abschaum leisten und durchhalten, während eine
       Millionenstadt wie Mossul an einem Tag gefallen ist?“
       
       Posting Nummer 8 – 2. September: „Noch ein neues Video von den Verbrechern.
       Es zeigt die Enthauptung eines zweiten US-amerikanischen Journalisten,
       Stephan Sotloff. Kann man mir sagen, was diese Mörder damit beabsichtigen?“
       
       Wieder einige Tage später, am 7. September, habe ich sie erneut im Internet
       angetroffen, es entspann sich folgende schriftliche Konversation.
       
       Wali: Finally, endlich, da bist du. Habe dich vermisst in den letzten
       Tagen.
       
       Sie: Ich dich auch. Ich war beschäftigt. Und das Netz war sowieso müde.
       
       Wali: Ich hoffe, es geht dir gut.
       
       Sie: Ich bin wie das Netz. Mal so, mal so. Und die Lage verspricht alles
       andere, als sich zu bessern. Wenn du Familie und Freunde in Bagdad hast,
       bitte hilf ihnen, dass sie Richtung Süden gehen oder am besten noch ganz
       raus aus dem Irak können. Tu, was du kannst, ihnen zu helfen.
       
       Wali: Was ist mit dir? Willst du das Land verlassen?
       
       Sie: Ja, ich denke daran, das Land zu verlassen. Die Frage ist, wohin?
       Außerdem: Immer wenn ich ans Weggehen denke, überfällt mich ein
       Schuldgefühl. Dann denke ich, jetzt wegzugehen sei Verrat. Entschuldige,
       ich will nicht Parolen ausgeben, aber das ist mein echtes Gefühl. Viele
       Male wollte ich schon weggehen, so weit weg wie möglich von diesem Land,
       habe es schon geplant. Aber ich kann den Irak nicht verlassen, während
       alles hier zusammenbricht. Wenn ich gehe, möchte ich gleichzeitig die
       Hoffnung haben, dass das Land eines Tages zur Ruhe kommt und seine
       Bedeutung wiederfinden wird. Aber ehrlich gesagt, ich will trotzdem weg.
       Der Irak ist in Korruption versunken. Denen, die das Land regieren,
       bedeuten die Menschen nichts.
       
       Wali: Das alles ist nicht neu.
       
       Sie: Ich weiß. Ich hatte mich zuletzt wie die meisten Menschen in Bagdad
       und anderen Städten an die Sicherheitsprobleme gewöhnt. Ich hatte mich
       daran gewöhnt, mit dem Tod auf der Straße zu gehen. Aber nicht an die Macht
       der Dunkelheit und jener Fledermäuse, die darin nun aufgetaucht sind. Ich
       meine, es war bereits dunkel, aber jetzt ist es stockfinster. Bis jetzt gab
       es Hoffnung, dass der Sturm einmal abzieht und sich Raum für Wiederaufbau
       und Entwicklung auftut. Aber jetzt? es gibt keinen Traum mehr und kaum mehr
       Hoffnung.
       
       Wali: Ich verstehe deine Gefühle. Aber was könnte noch Schlimmeres
       passieren, als in den vergangen Jahren bereits passiert ist?
       
       Sie: Bagdad ist jetzt relativ stark und sicher in der Verteidigung. Weder
       al-Baghdadi (der Isis-Kalif) noch zehn seinesgleichen können hier etwas
       erreichen. Ich meine, was die Eroberung der Stadt betrifft. Das Problem ist
       nach Baghdadi.
       
       Wali: Bitte erklär, was du damit meinst.
       
       Sie: Das Land liegt jetzt völlig in den Händen der Milizen. Es gibt keine
       Armee. Der nächste Schritt wird ein Krieg zwischen den schiitischen Milizen
       sein. Denn seit Kurzem morden die as-Sajib und andere schiitische Milizen
       wieder in Bagdad. Sie plündern wahl-, moral- und religionslos. Alle wissen,
       dass der Sicherheitsapparat zusammengebrochen ist. Den wiederaufzurichten
       scheint fast unmöglich. Das Thema hängt von der politischen, ethnischen,
       konfessionellen Verteilung ab.
       
       Wali: Ein düsteres Bild. Ich habe von dem Verbrechen an den 24 Frauen im
       Stadtteil von Sajona in Bagdad gehört. Sie wurden vor einiger Zeit in ihrem
       Haus mit Waffen, die mit Schalldämpfer versehen waren, liquidiert, weil sie
       angeblich Prostituierte waren. Al-Baghdadi scheint tatsächlich nur einer im
       Meer der extremistischen Milizen zu sein.
       
       Sie: Genau. Er ist ein klar zu lokalisierender Feind. Er sagt, was er
       vorhat. Du weißt, woran du bist. Du kannst gegen ihn kämpfen, flüchten oder
       sterben. Mit den Milizen verhält sich die Sache anders. Die Übergänge sind
       undeutlicher zwischen Gruppen, aktiven Unterstützern und Sympathisanten.
       Und immer finden sie eine Ausrede.
       
       Wali: Aber was wäre die Lösung? Eine Regierung, gebildet aus Technokraten
       der drei Volksgruppen, Schiiten, Sunniten, Kurden?
       
       Sie: Es wird keine solche Regierung geben. Auch jetzt nicht mit Abadi.
       Selbst wenn al-Baghdadi kommt. Die politischen Persönlichkeiten müssten
       aufhören, so egoistisch zu handeln, ein Minimum des
       Zusammengehörigkeitsgefühls in diesem Land entwickeln. Ein Minimum an
       Menschlichkeit, um eine nationale Regierung und zivile Institutionen zu
       bilden. Aber das ist ein ferner Traum. Das kann noch 20 oder 30 Jahre
       dauern, bis es soweit ist.
       
       Wali: Höre ich da ein wenig Optimismus?
       
       Sie: Oh, hat das so geklungen?
       
       Wali: Bei aller Verzweiflung, ohne Hoffnung geht es nicht.
       
       Sie: Das stimmt. Was soll man sonst über alle Geschlechter und Religionen
       hinwegtun.
       
       Wali: Bis zum nächsten Mal.
       
       Sie: Ja, hoffentlich sprechen wir uns bald wieder.
       
       Es war das erste Mal, dass wir uns mit einem „wir“ verabschiedeten.
       
       Der Autor ist irakischer Schriftsteller und lebt in Berlin. Im Frühjahr
       erschien sein Roman „[1][Bagdad Marlboro]“ im Hanser Verlag. Der erste Teil
       des Austauschs mit unserer Frau in Bagdad, die aus Gründen der Sicherheit
       anonym bleiben muss, erschien am [2][18. Juni 2014], der zweite am [3][3.
       August 2014].
       
       24 Sep 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.hanser-literaturverlage.de/buecher/buch.html?isbn=978-3-446-24485-6
   DIR [2] /Kriegstagebuch-aus-dem-Irak/!140620/
   DIR [3] /Kriegstagebuch-aus-dem-Irak/!143481/
       
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