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       # taz.de -- Zerfall der Piratenpartei: Hoffnungsträger wird Auslaufmodell
       
       > Einst verband man mit der Piratenpartei die Hoffnung auf einen
       > progressiven, linken Liberalismus. Was ist davon übrig geblieben?
       
   IMG Bild: „Ein verbrauchtes Label“, meint Parteienforscher Koschmieder.
       
       BERLIN taz | An jenem Morgen sitzt der Mann, wie so oft, in einem
       Stuhlkreis. Um ihn herum flattern die Planen eines provisorisch errichteten
       Zeltes, dort vorn in Sichtweite steht das Bundeskanzleramt in Berlin-Mitte.
       Sein Eifer, seine Haltung, sein etwas nerviger Optimismus und sein
       überbetonter Wunsch nach Harmonie werden später einmal in ein kleineres
       Kapitel der deutschen Parteiengeschichte eingehen. Ein freier Radikaler.
       
       Sein Name ist Johannes Ponader, und wenn er hier noch einmal genannt wird,
       dann weil er für eine Sehnsucht steht, für eine gute Idee und dafür, dass
       aus schönen Träumen allein noch keine bessere Welt entsteht. Sein Name
       steht auch für eine neue Idee von Freiheit, für eine Zermürbung und
       letztendlich: für einen Zerfall.
       
       Es ist der 6. Januar 2012 und Johannes Ponader sitzt dort im Zelt noch als
       Occupy-Aktivist. Er redet von Transparenz und von Aufrichtigkeit.
       Eigentlich möchte der Künstler Johannes Ponader die ganze Welt umarmen,
       sich mit ihr verschwistern und sie verstehen: Da gibt es doch etwas
       zutiefst Menschliches, das uns verbindet. Muss Menschlichkeit und Teilhabe
       nicht auch den idealen Staat ausmachen? Muss dieser Staat denn nicht ganz
       radikal ein Staat des Bürgers sein – statt nur ein Staat für den Bürger?
       
       Es wird nun nicht mehr lange dauern – und Johannes Ponader wird politischer
       Geschäftsführer der Piratenpartei in Deutschland sein. Und dann wird es
       nicht mehr lange dauern – und Johannes Ponader wird von der Bildfläche
       verschwunden sein. Erst kommt der Aufstieg, dann, eigentlich sofort,
       beginnt der Zerfall. Freie Radikale. In der Biochemie lassen sich damit die
       Alterungsprozesse von Organismen erklären und, um dieses etwas naheliegende
       Bild zu gebrauchen, in der Politik ebenfalls.
       
       Spätestens am vergangenen Wochenende hat sich eine neue Anzahl freier
       Radikaler offenbart, die einiges mit Johannes Ponader gemein hat. Sie
       heißen Christopher Lauer, Oliver Höfinghoff oder Anke Domscheit-Berg. Ihre
       Namen standen für ein gesellschaftliches Emanzipationsversprechen, das die
       Piratenpartei einst stolz feilbot: die Idee eines transparenten,
       partizipatorischen Staates, der keine Geheimnisse vor seinen BürgerInnen
       haben sollte.
       
       ## Wichtiger inhaltlicher Impuls
       
       Das Verdienst dieser Partei war es, dass sie Freiheit in der digitalen und
       analogen Welt aufklärerisch definierte, als materielle Teilhabe an
       politischen Entscheidungen und Prozessen. Die Piraten entwickelten dazu
       eine Reihe technischer Instrumente, die die Möglichkeiten des Internets
       nutzten. Wichtiger aber war ihr inhaltlicher Impuls: Heute führt die SPD
       allenthalben Mitgliederentscheide durch und die Bundesregierung rühmt sich
       ob ihrer „Digitalen Agenda“.
       
       Die Piraten machten ein Freiheitsangebot. Es richtete sich an die
       städtische digitale Boheme: weg vom verspießerten linken Ideologentum, weg
       von der grün-gemütlichen Ökolaberei, hinfort mit dem neoliberalen
       Wirtschaftsdogma einer FDP. Es gab eine Zeit, eine kurze, in der hielten
       einige Leute die Piraten doch glatt für so etwas wie eine Avantgarde.
       
       In Zahlen: 2011 zogen die Piraten mit sagenhaften 8,9 Prozent der Stimmen
       ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Umfragen sie später bundesweit immer
       wieder bei deutlich über 10 Prozent. Zu Hochzeiten vermochten sich laut
       Umfragen gar ein Drittel aller Deutschen vorzustellen, ihre Stimme einmal
       den Piraten zu geben.
       
       Es war Frühlingsstimmung im Parteiendeutschland und der frische, freche
       Politikansatz, der ohne ideologische Verbortheiten auszukommen schien,
       begeisterte viele Menschen. Davon ist nichts geblieben.Gerade einmal 1,5
       Prozent der Wähler stimmten bei den Landtagswahlen in Brandenburg zuletzt
       noch für die Piraten. Und auf Bundesebene tobt ein erbitterter Streit um –
       ja, worum eigentlich? Um die korrekte Idee von Freiheit.
       
       ## Sozialpolitisches Profil vermisst
       
       Linke Mitglieder wollten die Partei seit jeher sozialpolitisch profilieren
       und verlangten immer wieder ein klares Bekenntnis zum Antifaschismus. Ihre
       Gegner, die sich als sozialliberal beschreiben, fürchteten nichts mehr als
       das. Der Berliner Parteienforscher Carsten Koschmieder sagt: „Ein
       sozialliberales Profil impliziert ja, dass es auch gesellschaftspolitische
       Visionen gibt.“
       
       Vielen der sogenannten sozialliberalen Piraten mangele es aber an solchen
       Visionen. „Sie wollen sich ausschließlich um netzpolitische Themen kümmern,
       wie Datenschutz oder Urheberrechtsfragen.“ Das reiche nicht, um Erfolg zu
       haben. Aber darum geht es, wie es scheint, ohnehin längst nicht mehr. „Die
       Piraten – das ist ein verbrauchtes Label“, sagt Koschmieder.
       
       Und tatsächlich: Seit Anfang des Jahres beschäftigte sich die Partei, wie
       eigentlich auch schon in den Jahren zuvor, mit Flügelkämpfen und öffentlich
       zelebrierten Schmutzkampagnen. Als bei Anti-Nazi-Protesten im Februar in
       Dresden die Piratin Anne Helm als „Bomber-Anne“ bekannt wurde, brach
       zunächst ein ideologischer Streit auf Twitter aus.
       
       Helm hatte sich maskiert und mit nacktem Oberkörper vor der Semperoper in
       Dresden fotografieren lassen – ihre Botschaft war ein „Dank“ an den
       Alliiertenkommandeur Arthur Harris, der die Stadt im Zweiten Weltkrieg
       bombardieren ließ.
       
       ## Politische Perspektive zerbricht
       
       Chaos brach daraufhin in der Partei aus. Ehrenamtliche Administratoren
       riefen zu einem „[1][#Orgastreik]“ auf und unterliefen damit sowohl die
       Vorstandsarbeit als auch die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Mitglieder.
       Schließlich zerlegte sich dann, nicht zum ersten Mal, der komplette
       Vorstand. Und so zerbrach mit jedem Seitenhieb auf Twitter Stück um Stück
       die politische Perspektive der einstigen Hoffnungsträger.
       
       Christopher Lauer, zuletzt Landesvorsitzender von Berlin und notorischer
       Lautsprecher, gab nun Ende vergangener Woche seinen Posten auf und trat aus
       der Partei aus. Sein Kollege Oliver Höfinghoff, ein aufrichtiger
       Antifaschist und früherer Fraktionsvorsitzender der Piraten in Berlin, tat
       es ihm gleich. Auch Anke Domscheit-Berg, erprobte Feministin und kundige
       Netzexpertin, die zuletzt an der Spitze des Brandenburger Landesverbandes
       stand, trat aus.
       
       Zur Begründung schrieb sie auf [2][ihrer Homepage]: „Wo ist das Visionäre,
       Progressive, Mutige, das Neue und das Andere geblieben?“ Konservativ,
       vergangenheitsgerichtet, ängstlich und spaltend sei die Partei geworden.
       „Mit denen“, schrieb die Aktivistin mit Ost-Biografie weiter, „hätte man in
       der DDR keine Mauer eingerissen.“
       
       Lauer, Höfinghoff und Anke Domscheit-Berg sind nun wieder frei. Sie sind
       Radikale unserer Zeit mit einer echten Idee von der Zukunft – aber ihr
       Organismus, die Partei, ist vor allem eines: gealtert, ohne schön zu
       werden.
       
       Einer der wenigen bekannten Piraten, der noch immer nicht ausgetreten ist,
       heißt Martin Delius. Ihm wird auch von der politischen Konkurrenz
       nachgesagt, im Berliner Abgeordnetenhaus eine gute Sacharbeit zu machen.
       Delius ist Vorsitzender der Fraktion in Berlin und leitet den
       Untersuchungsausschuss zum Drama um den Berliner Flughafen BER.
       
       ## Expiraten auf der Suche
       
       Er sagt: „Ich verstehe und respektiere die Entscheidungen von Christopher,
       Oli und Anke sowie von allen anderen, die es in der Partei nicht mehr
       aushalten.“ Andere, wie etwa die frühere Piraten-Ikone Marina Weisband,
       halten lieber die Füße still. Sie wollen das Chaos nicht kommentieren. Es
       gebe Wichtigeres, sagen sie. So stehen die Piraten nun vor einem
       Scherbenhaufen. Und erstmals suchen entscheidende Expiraten nach neuen
       Perspektiven.
       
       In Berlin diskutieren Mitglieder und Abgeordnete derzeit offen über eine
       Abspaltung aus der Partei. „Wir müssen mit progressiven Leuten von den
       Linken und den Grünen gemeinsam über gemeinsame Perspektiven nachdenken“,
       sagt Oliver Höfinghoff. „Das betrifft den parlamentarischen und den
       außerparlamentarischen Raum.“ Aber daran zu denken, dass daraus jemals
       wieder eine bundespolitische Vision werden könnte, das dürfte auch ihm
       schwerfallen.
       
       Was also geschieht künftig mit jenen freien Radikalen, die ungebunden, aber
       reaktionsfähig sind? In der Biochemie ist die Antwort leicht: Sie führen zu
       raschen Alterungsprozessen. In der Politik ist die Sache anders gelagert:
       Sie sind auf der Suche. Immerhin dies.
       
       22 Sep 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://twitter.com/search?src=typd&q=%23orgastreik
   DIR [2] http://ankedomscheitberg.de/?p=1763
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Kaul
       
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