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       # taz.de -- Das Ich im Journalismus: Im Zeitalter der Selbststilisierung
       
       > Journalisten betreiben immer häufiger Nabelschau, anstatt ordentlich zu
       > recherchieren. Das ramponiert den Ruf des Berufsstands.
       
   IMG Bild: Der Meister des journalistischen Ich: Hunter S. Thompson.
       
       „Ich habe nie davon geträumt, zu heiraten.“ 
       
       „Ich habe mir Eizellen einfrieren lassen.“ 
       
       „Ich muss noch einmal über Käsekuchen schreiben.“ 
       
       Was haben diese drei Sätze gemein? Zweierlei: Zum einen wurden sie von
       namhaften Redakteurinnen und Redakteuren in sogenannten Qualitätszeitungen
       veröffentlicht; zwei stammen aus dem Nachrichtenmagazin Spiegel, einer
       stammt aus der taz.
       
       Zum anderen beginnen die drei Sätze mit dem Wort „ich“. Sie stehen für
       einen einen Trend, der scheinbar unaufhaltsam mächtiger wird im deutschen
       Journalismus.
       
       Es icht. Es icht immer häufiger in den deutschen Zeitungen und
       Zeitschriften. Es icht ganz furchtbar.
       
       Viele Journalisten berichten weniger über interessante Personen und
       Ereignisse, sondern schreiben lieber über sich selbst und was sie so alles
       erlebt haben. Die Leserschaft der Zeitungen schrumpft, die Zahl der
       Kolumnisten steigt. Die Kolumnisten erzählen, was sie im Fernsehen gesehen
       oder im Internet gefunden haben; sie schildern, welche Erfahrungen sie mit
       ihrem neuen Smartphone gemacht haben, was ihnen ihre halbwüchsigen Kindern
       zugemutet haben oder oder oder.
       
       ## Ein Knoblauch-Shampoo
       
       Die abgemilderte Variante des Ich-Journalismus ist das Schreiben über
       andere Personen und Ereignisse – und sich selbst. Journalisten produzieren
       Selfies, ihre Gegenstände werden zu Kulissen, ihre Protagonisten zu
       Komparsen mehr oder minder geglückter Selbstdarstellungen.
       
       Nicht einmal die als seriös geltende Zeit hält dem Drang zur Ichisierung
       stand. In dem Hamburger Wochenblatt berichtet vor einer Weile eine
       Journalistin aus Kabul: „Als mir keine Fragen mehr einfallen, kaufe ich
       zwei Litergläser Honig, zwei große Tücher und ein Knoblauch-Shampoo.“ Dass
       sie Ronja von Wurmb-Seibel heißt, dafür kann die Kollegin nichts, für
       solche belanglosen Erzählungen schon.
       
       Ohne Frage: Der Journalismus alter Schule – als es noch lange Sätze und
       kein Internet gab – hatte auch seine Tücken. Da schrieben manche
       Journalisten der Regierung am liebsten ins Stammbuch, was diese zu tun
       habe; erstens, zweitens, drittens. Viele Journalisten hatten politische
       Ziele, auch wenn diese so banal waren, dass die SPD die nächsten Wahlen
       gewinnen sollte – oder die Union. Sie wollten den Mächtigen nahekommen,
       sich in ihrem Lichte sonnen und sie schleimten sich dafür ohne Hemmungen
       bei Politikern oder Vorstandsvorsitzenden ein.
       
       Gleichwohl gab es einen Grundkonsens unter Journalisten: Sie wollten
       berichten, sie wollten das Publikum informieren, sie liehen ihren Lesern
       Auge und Ohr, aber sie blieben dabei als Person im Hintergrund. Der Leser
       erfuhr in einer Reportage vielleicht, dass es brütend heiß war, aber musste
       nicht lesen: „Ich schwitze schon am frühen Morgen.“
       
       Die wichtigste Wurzel des Ich-Journalismus ist der „New Journalism“, jene
       zunächst in den 1960er-Jahren in den USA von Tom Wolfe, Truman Capote,
       Hunter S. Thompson und anderen veröffentlichte literarische Reportagen, die
       nicht mehr Objektivität simulierten, sondern subjektiv Ereignisse und
       Personen beschrieben. Thompson trieb, von Drogen aller Art berauscht,
       seinen „Gonzo-Journalismus“ am weitesten. Diesen Ansatz griffen in den
       1980er-Jahren junge Journalisten des Magazins Tempo in Hamburg auf und
       trugen ihn – ordentlich domestiziert – in andere Medien.
       
       Aus Sicht der Leserschaft ist es sehr einfach: Ob subjektiver Journalismus
       interessant ist oder gar der Aufklärung dient, entscheidet sich am
       schreibenden Subjekt. Haben wir es mit einer charismatischen, klugen Person
       zu tun, die existenzielle Erfahrungen gemacht hat, die Interessantes tut,
       erlebt und reflektiert, kann der journalistische Mehrwert beachtlich sein.
       
       Doch Journalisten in Deutschland stammen nahezu ausnahmslos aus dem
       Mittelstand, gerne ist der Vater oder die Mutter Lehrer. Sie haben zumeist
       Geisteswissenschaften studiert und führen als Redakteur ein von zu viel
       Arbeit geprägtes, relativ langweiliges Leben.
       
       ## Eitelkeit als Kapital
       
       Warum drängen solche Ichs immer stärker ans Licht? Natürlich ist es
       Eitelkeit mit fließenden Übergängen zu nacktem Narzissmus. „Eine gewisse
       Eitelkeit“ gehöre zum Metier, hat Heribert Prantl, der Kommentator der
       Süddeutschen Zeitung, eingeräumt. „Der Journalismus ist, fast wie die
       Schauspielerei, ein extrovertiertes Gewerbe.“ Das ist noch zurückhaltend
       formuliert: Viele Journalisten wollen nicht nur bedeutende und
       außergewöhnliche Menschen rühmen, sondern auch einmal gerühmt werden.
       Notfalls legen sie dafür selbst Hand an. Und in einer Zeit der
       fortschreitenden Individualisierung, der Ich-AGs und der Selbststilisierung
       betrachten viele Journalisten Eitelkeit als wichtigen Teils ihres
       Grundkapitals.
       
       Im harten Kampf um Jobs versuchen sie sich als Marke zu entwickeln und zu
       profilieren. Gleichzeitig werden Journalisten inzwischen so schlecht
       bezahlt – Ingenieure verdienen als Berufsanfänger mehr als dreimal so viel
       wie junge Journalisten –, dass die Befriedigung der Eitelkeit auch dem
       Kompensieren der Ausbeutung und der immer schlechteren Arbeitsbedingungen
       dient.
       
       Und neben psychischen Gründen spricht auch die Arbeitsökonomie für das
       Ichen. Es handelt sich um eine recherchearme oder sogar recherchefreie
       Variante der journalistischen Produktion. Und wer kann und will schon
       überprüfen, ob der Autor tatsächlich in Afghanistan einem Angriff der
       Taliban entkommen ist oder diesen an der Hotelbar halluziniert hat. Oder ob
       die Kolumnistin tatsächlich von einer schwäbischen Latte-Mutti in
       Prenzlauer Berg angeherrscht wurde oder sie diese nur aus gängigen
       Klischees kompiliert hat.
       
       Da Journalisten sich über ihre Arbeit selten Gedanken machen, fehlt bislang
       eine Theorie des Selfie-Journalismus. Eines ist allerdings klar: Er geht
       auf die in Deutschland inzwischen hegemoniale Alternativkultur der
       Siebzigerjahre zurück. Damals formulierten sogenannte Spontis die Devise:
       „Das Persönliche ist politisch.“ Damit wandten sie sich gegen den rigiden
       Politikbegriff von Maoisten und anderen Sektierern, die als Arbeiter
       verkleidet das Proletariat bekehren wollten.
       
       Das Persönliche ist politisch, das gab und gibt selbst dem banalsten
       Erlebten die Aura des Authentischen und die Weihe des Bedeutungsvollen.
       Doch so einfach ist es nicht. Wenn inzwischen die Journalistengeneration
       der Selfies glaubt, das Persönliche sei qua naturam politisch, auch wenn es
       nicht politisch gedacht und auf das Politische projiziert wird, ist das ein
       fataler Fehler. Zudem verwechseln die meisten Ich-Erzähler das Persönliche
       mit dem Privaten.
       
       ## Residuum des Privaten
       
       Zum Glück gibt es noch – und sollte es unbedingt auch für Journalistinnen
       und Journalisten geben – ein Residuum des Privaten, einen Bereich außerhalb
       der Medien. In diesen Bereich gehört, für meinen Geschmack, auch die Frage,
       ob eine Spiegel-Redakteurin sich Eizellen einfrieren lässt. Es darf nicht
       verschwiegen werden, dass die Qualitätsunterschiede im Selfie-Journalismus
       ebenso erheblich sind wie zwischen den Medien generell.
       
       Caroline Emcke zum Beispiel betreibt den Ich-Journalismus auf höchstem
       intellektuellen Niveau; ebenso der Kreuzberger Feuilletonist und taz-Autor
       Detlef Kuhlbrodt, der eine Kolumne mal mit dem Satz begann: „Meine
       Schwester sagte mir, dass meine Mutter glaubt, dass ich tot bin.“
       
       Solche Sätze sind Literatur und nicht Journalismus, es geht vor allem um
       Stimmungen, nicht um Fakten. Ich meine: Das subjektive, von der Ästhetik
       bestimmte Schreiben sollten die Journalisten den Schriftstellern und
       Dichterinnen überlassen.
       
       23 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Sontheimer
       
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