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       # taz.de -- Integration mal andersrum: Elitäre Parallelgesellschaft
       
       > Karin Beiers „Pfeffersäcke im Zuckerland“ sucht am Hamburger
       > Schauspielhaus nach den Nachfahren der ersten deutschen Einwanderer in
       > Südbrasilien.
       
   IMG Bild: Kein Bedarf an Integration: Deutsche in Brasilien.
       
       HAMBURG taz | Einen äußerst lukrativen Markt eröffnete Karl Sieveking den
       Hamburger Kaufleuten zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 1827 handelte der
       Senats-Syndikus, Kunstmäzen und Philanthrop in Rio de Janeiro einen
       Handelsvertrag mit dem fünf Jahre zuvor unabhängig gewordenen Staat in
       Südamerika aus. Vor allem auf den Zucker hatten es die Pfeffersäcke
       abgesehen. Schnell wurde der Hamburger Hafen zum wichtigsten Umschlagsplatz
       für brasilianische Importe. Aber auf der Fahrt nach Brasilien blieben die
       Schiffe leer. Die Lösung: Ein groß angelegtes Geschäft mit der
       Auswanderung.
       
       Mitte der 1840er griff der Hamburger Kaufmann und Senator Christian
       Matthias Schröder Sievekings Idee auf, in Brasilien eine Kolonie zu
       gründen. Im südbrasilianischen Santa Catarina kaufte Schröders
       „Colonisations-Verein von 1849 in Hamburg“ dem Prinzen von Joinville
       François d’Orleans und seiner Gemahlin Prinzessin Franziska Caroline von
       Portugal ein Gebiet von rund 200 Quadratkilometern ab, um es zu
       „colonisieren, und zwar so, dass der Auswanderung aus Deutschland dadurch
       ein Ausweg mehr angewiesen werde“, wie es in den Statuten des Vereins
       heißt.
       
       Ein Jahr später kamen die ersten 17 Siedler in der kurz darauf in Joinville
       umbenannten Colônia Dona Francisca an. 17.000 Deutsche flohen im Verlauf
       der folgenden 40 Jahre vor den sozialen Problemen in Europa dorthin,
       überwiegend arme protestantische Bauern. Mehr als die Hälfte der heute
       500.000 Einwohner Joinvilles stammt von Deutschen ab, insgesamt haben rund
       zehn Prozent der Brasilianer deutsche Vorfahren.
       
       ## Einfache Siedler
       
       Es waren Menschen wie Ottokar Dörffel, die hier ihr Glück versuchten. Als
       Rechtsanwalt konnte der ehemalige Bürgermeister der sächsischen
       Textilindustriehochburg Glauchau nach langem Prozess wegen revolutionärer
       Umtriebe keinen Fuß mehr fassen. 1854 wanderte er nach Joinville aus, rang
       dem Sumpf als einfacher Kolonist mit Säbel, Axt und Hacke Platz zum Leben,
       Wohnen und Wirtschaften ab. Dörffel wurde Schatzmeister, dann Stadtrat,
       schließlich Bürgermeister.
       
       Dabei setzte er sich leidenschaftlich für die Vermittlung deutscher
       Lebensart und Kultur ein, gründete die Loge „Deutsche Freundschaft zum
       Kreuze des Südens“ und gab ab 1862 als Verleger und Redakteur in
       Personalunion die deutschsprachige Colonie-Zeitung heraus. Fast 80 Jahre
       lang erschien das Blatt.
       
       ## Abgrenzungstendenzen
       
       Es sind die Nachfahren dieser ersten „Alemãos“, auf deren Spuren sich das
       deutsch-brasilianische Theaterprojekt „Pfeffersäcke im Zuckerland“ von
       Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier begibt. Am Samstag wird das
       Dokumentartheaterstück als „Menschenausstellung“ im Malersaal uraufgeführt.
       „Der Kerngedanke war, dass wir auf das Thema Migration aus einem anderen
       Blickwinkel gucken“, sagt Beier. „Wir haben klare Ansprüche, was
       Integration angeht, erwarten, dass sich schon die erste Generation anpasst,
       Deutsch lernt, die Werte übernimmt und keine Abgrenzungstendenzen hat“,
       sagt sie. „Aber leisten die Deutschen diese Ansprüche selbst?“
       
       Auf einer zweiwöchigen Recherchereise haben Beier und ihr Team sich letztes
       Jahr in Joinville auf die Suche nach Nachfahren der ersten Emigranten
       gemacht. „Das ist uns teilweise gelungen“, erzählt sie. „Wir haben Leuten
       interviewt, die bereits in der sechsten Generation dort leben.“ Immer noch
       sprechen viele von ihnen zu Hause Deutsch, sind ausschließlich mit
       Deutschbrasilianern verheiratet. Eine Parallelgesellschaft mit erstaunlich
       hartnäckigen Abgrenzungstendenzen gegen den Rest der brasilianischen
       Gesellschaft.
       
       ## Elitäres Bewusstsein
       
       „Es ist frappierend, wie naiv und unverhohlen bis heute ein elitäres
       Bewusstsein verkündet wird“, sagt Beier. „Die Menschen, mit denen wir
       gesprochen haben, haben das Gefühl geäußert, die einzigen zu sein, die
       Kultur haben, sind überzeugt, Tugenden wie Fleiß und Willenskraft
       mitbekommen zu haben, die alle anderen nicht haben.“ Ungebrochen werde von
       ihnen deutschnationale Terminologie bemüht, werde von deutschem Blut
       gesprochen und dem Rest der Brasilianer eine andere Mentalität bescheinigt.
       
       „Es gibt diesen Ausdruck des Hüftschwungs, alle sprechen davon“, sagt
       Beier. Eine Bewegung, die dafür stehe, die Dinge zu umschiffen, Problemen
       aus dem Weg zu gehen, elegant mit ihnen umzugehen, sich nicht zu
       entscheiden. Demgegenüber stehe die typisch deutsche Klarheit, ein lineares
       zielführendes Denken. „Bei uns gilt es als Charakterstärke, eine klare
       Haltung einzunehmen“, sagt Beier. Gegensätze unvermittelt nebeneinander
       stehen zu lassen, damit hätten die Deutschen große Probleme.
       
       ## Großer Weltentwurf
       
       Auf der Basis der Interviews mit den Deutschbrasilianern ist der erste Teil
       des Abends entstanden. Schauspieler spielen überspitzte Figuren, erzählen
       aus deren Lebensgeschichte, begleitet von einer assoziativen Filmebene.
       Doch dabei belässt es Beier nicht. Der eher schlichten Naivität der
       Interviews stellt sie im zweiten Teil eine sprachlich virtuose
       Reflexionsebene gegenüber. „Um es zu bündeln, aber auch, um noch mal einen
       Außenblick aus der Vogelperspektive einnehmen zu können“, sagt Beier.
       
       Geschrieben hat den rund einstündigen Epilog „Strahlende Verfolger“ die
       österreichische Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Mit Bezug auf
       Heidegger und Kant setzt sie sich darin mit dem elitären Bewusstsein des
       Deutschen auseinander, der mit einem Entwurf seiner selbst auswandere und
       diesen dann auf die anderen werfe.
       
       Eine drängende Aktualität bekommt das Stück so vor dem Hintergrund des
       immer lauter werdenden Rufs nach entschiedenerem deutschen Engagement in
       der Weltpolitik. Zur Diskussion um Integration tritt die Debatte um ein
       spezifisches Denken über Vernunft und das Bewusstsein klarer Strukturen.
       „Der Deutsche breitet sich nicht in der Ebene, sondern auf eine andere Art
       und Weise in der Welt aus, das ist der Punkt“, sagt Beier. „Es geht nicht
       um Bodentruppen, sondern um Denksysteme.“
       
       ## ■ Uraufführung: Sa, 20. 9., 20 Uhr, Schauspielhaus/Malersaal. Karten
       gibt es noch für die Aufführungen am 28. 9. und 1. 10., je 20 Uhr. Weitere
       Termine im November
       
       21 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Matthies
       
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