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       # taz.de -- Finnland auf der Buchmesse: Der alle zu Wort kommen lässt
       
       > Mittlerweile sitzt Aleksis Kivi versonnen auf seinem Denkmal. Zu
       > Lebzeiten galt der Heilige der finnischen Literatur noch als Schandfleck.
       
   IMG Bild: Hat mehr zu bieten als nur Winterlandschaft: Finnlands Literatur ist Thema bei der diesjährigen Buchmesse.
       
       Als Bertolt Brecht im April 1940 das Denkmal von Aleksis Kivi auf dem
       Bahnhofsplatz von Helsinki sah, war es gerade ein halbes Jahr alt und
       erstrahlte in makelloser Bronze. Es muss Eindruck auf den Exilanten gemacht
       haben, denn er nahm es in sein Buch „Flüchtlingsgespräche“ auf, in dem der
       Intellektuelle Ziffel und der Arbeiter Kalle täglich das auch von Brecht
       frequentierte Bahnhofsrestaurant aufsuchen, um sich über das Los des
       Flüchtlings zu unterhalten. An einem Tag bleiben sie vor dem Denkmal
       stehen, und Ziffel sagt: „Das ist der Kivi, von dem soll man etwas lesen,
       heißt es.“
       
       Brecht hat hier einen guten Vorschlag gemacht, denn dieser Aleksis Kivi ist
       etwas Besonderes. Der 1834 geborene Sohn eines Schneiders hat 1870 den
       ersten Roman in finnischer Sprache geschrieben und damit den Grundstein für
       eine ganze Nationalliteratur gelegt. Welcher Autor kann so etwas schon für
       sich beanspruchen? Ein Denkmal ist da allemal fällig.
       
       Leider hat man erst nach seinem Tod erkannt, dass er es verdient hat. Zuvor
       wurde sein epochemachendes Werk von der literarischen Elite als Schandfleck
       gebrandmarkt, was dem Kivi nicht gut bekam: magere Buchverkäufe, schwere
       Schulden, Alkoholismus, psychische Erkrankung und ein früher Tod mit 38
       Jahren in den ärmlichsten Verhältnissen. Brecht war darüber im Bilde, denn
       er lässt seinen Kalle sagen: „Er soll ein guter Dichter gewesen sein, ist
       aber verhungert. Das Dichten ist ihm nicht bekommen.“
       
       Der Roman, der zum Schicksal des ersten freien Schriftstellers finnischer
       Sprache wurde, heißt „Sieben Brüder“ und liegt jetzt, auch da Finnland
       Gastland auf der Frankfurter Buchmesse sein wird, in einer gewitzten, allen
       Lockungen modischer Aktualisierung widerstehenden Neuübersetzung von
       Gisbert Jänicke vor (Verlag Jung und Jung, 428 Seiten, 19,99 Euro). Er
       erzählt die Geschichte von sieben elternlosen Burschen, die in den
       finnischen Wäldern ein Leben wie die „Wolfswelpen“ führen, den geerbten Hof
       herunterwirtschaften, sich mit den Nachbarn anlegen und in jeder Hinsicht
       über die Stränge schlagen.
       
       ## Sauna in Flammen
       
       Bändigungsversuche scheitern kläglich. Als sie unterm Kuratel des Kantors
       das Lesen lernen sollen, setzt das ihren „harten Schädeln“ so sehr zu, dass
       sie das Fenster einschlagen und fliehen. Es folgt ein zehnjähriges
       Abenteuerleben, zu dem Erfolge bei der Bärenjagd, aber auch gravierende
       Missgeschicke im Umgang mit Mensch und Natur gehören. Zu eifriges Heizen
       führt dazu, dass ihnen die Sauna in Flammen aufgeht, und später fackeln die
       sieben durch Unachtsamkeit sogar ihr ganzes Haus ab, worauf sie mit blanken
       Hintern und Füßen durch den Schnee zum nächsten Hof flüchten müssen.
       
       Der Clou von Kivis Roman besteht darin, dass die Ereignisse dauernd von den
       Brüdern kommentiert werden. Nicht die Abenteuer stehen im Mittelpunkt,
       sondern die Bemühungen der ungehobelten Kerle, verbal mit Gott und der Welt
       fertig zu werden. Im ersten Roman finnischer Sprache wird unablässig
       geredet. Das Buch bildet ein Dauer-Symposium volkstümlicher Art, das
       freilich immer wieder unterbrochen wird: sei es durch Trunkenheit oder
       durch eine kleine Katastrophe.
       
       Am Ende aber wird aus den Erfahrungen gelernt. „Die Welt ist zu uns, wie
       wir zur Welt sind“, erkennen die ehemaligen Raufbolde und versteigen sich
       sogar zu Formulierungen wie: „Fleiß ist die Quelle des Glücks.“ Schwitzend
       lernen sie nun doch das Lesen (denn nur wer den Katechismus konnte, durfte
       im protestantischen Finnland damals heiraten), werden von Jägern zu Bauern,
       roden Wälder, legen Sümpfe trocken, bauen Häuser, heiraten und werden zu
       Stützen der Gesellschaft.
       
       Kivi meinte es gut. Sein Roman ist von so konstruktivem Geist getragen,
       dass man sich bei der Lektüre des affirmativen Schlusses fast nach der
       Widerspenstigkeit der ersten drei Viertel des Werks zurücksehnt. Wie konnte
       ein so wohlwollendes Buch auf so massive Ablehnung stoßen? Es hat damit zu
       tun, dass Kivi als Erster ernst zu nehmende Literatur in finnischer Sprache
       schrieb und mit seinem Stil Erwartungen enttäuschte.
       
       Finnland hatte jahrhundertelang zu Schweden gehört, das kulturelle Leben
       fand auf Schwedisch statt, der Sprache der Elite. Aber die Mehrheit der
       Bevölkerung sprach Finnisch. Nachdem das Land im 19. Jahrhundert an
       Russland fiel, wurde die Sprache dieser Mehrheit nach und nach auf allen
       Ebenen etabliert. Allerdings unter Aufsicht der einflussreichen
       akademischen Kreise. Die wünschten sich für die entstehende Literatur
       Klassisches und Erbauliches. Und da kam ein Kivi daher und ließ sieben
       ungebildete Waldbewohner vom Leder ziehen, wie ihnen der Schnabel gewachsen
       war. Das entsprach nicht dem, was sich die Herren Akademiker vorgestellt
       hatten.
       
       ## Literatur für das gemeine Volk
       
       Heute bewundern wir den sprachlichen Reichtum bei Kivi. Damals wurde er als
       Autor betrachtet, der unstatthafte Register zog. Dabei handelte er
       zielgruppengerecht, da sein Publikum eben nicht der Bildungsschicht
       angehörte. Er schrieb Literatur für das gemeine Volk und gab damit einen
       Takt vor, der bis heute gilt: Finnische Literatur richtet sich generell an
       alle und geriert sich selten elitär. Romane und Erzählungen sind zumeist
       leicht zugänglich und bewegen sich dicht am Alltag.
       
       Wie schon bei Aleksis Kivi kann in einem finnischen Roman prinzipiell jeder
       zu Wort kommen. Als Helden treten selten intellektuelle Außenseiter auf,
       sondern Figuren, die mitten im Leben stehen, sich unter den Tücken des
       Daseins zu behaupten versuchen und sich wortreich auf ihre Art zu
       artikulieren wissen. Somit hält die finnische Literatur bis heute Kontakt
       zum gängigen Umgangston und bewegt sich nicht in einer eigenen Sphäre
       jenseits der Alltagssprache.
       
       Aleksis Kivis Vorgabe wirkt vielleicht auch deshalb weiter, weil sie Mitte
       des 20. Jahrhunderts von Väinö Linna untermauert wurde, der mit seinem
       Roman „Der unbekannte Soldat“ in remarquescher Manier ein Bild vom Krieg
       gegen die Sowjetunion geliefert hat, das alle Finnen kennen und
       akzeptieren. Auch hier stehen junge Männer unterschiedlichen Temperaments
       im Zentrum und kommentieren das Geschehen von unten, aus der
       Schützengrabenperspektive – wortreich, kreativ und jeder in seinem Dialekt.
       
       Wenn es in der finnischen Literatur ums Ganze geht, so scheint es, kommen
       alle zu Wort. Der Kollektivgedanke lebt, und vielleicht werden auch deshalb
       in Finnland auffallend viele Romane geschrieben, die aus mehreren
       Perspektiven erzählt werden. Sogar das konstruktive, wohlwollende Moment
       begegnet einem noch immer. Häufiger jedenfalls als ätzende Kritik, die
       alles in Frage stellt.
       
       Im Gegenzug genießen finnische Schriftsteller die Wertschätzung ihrer
       Zeitgenossen. Brechts Ziffel meinte anlässlich des Schicksals von Aleksis
       Kivi noch: „Ich habe gehört, es ist hier eine Landessitte, dass die
       besseren Dichter an Hunger sterben. Sie wird aber lückenhaft durchgeführt,
       indem einige auch durch Alkohol umgekommen sein sollen.“ Davon kann heute
       nicht mehr die Rede sein, denn das Land nährt seine Schriftsteller sogar,
       indem es sie großzügig mit zum Teil mehrjährigen Stipendien ausstattet.
       (Falls davon etwas in Alkohol investiert wird, stört das den Staat nicht
       weiter, denn er hält das Monopol und profitiert entsprechend.)
       
       ## Hisst die Fahnen
       
       Aleksis Kivi hat inzwischen seinen eigenen Gedenktag. Am 10. Oktober ist
       die Bevölkerung angehalten, zu seinen Ehren die finnische Fahne zu hissen,
       von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Nach wie vor sitzt der Dichter
       versonnen auf seinem Platz vor dem Nationaltheater, die Bronze nun mit
       grüner Patina überzogen. Das Bahnhofslokal, das Brecht einst inspirierte,
       wird von einer Burger-King-Filiale geschändet, und was die Aufnahme von
       Flüchtlingen betrifft, legt es Finnland nicht gerade auf Großzügigkeit an.
       
       Ob bei diesem Thema irgendwann mal ein Roman einhakt? Womöglich von einem
       Autor mit Migrationshintergrund? Sollte das der Fall sein, müsste der
       Verfasser nicht befürchten, dass sein Werk als Schandfleck abqualifiziert
       wird. Jedenfalls nicht, so lange er es gut meint.
       
       17 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Moster
       
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