URI: 
       # taz.de -- Polizei erschießt Jugendlichen in Italien: Mord, je nachdem
       
       > In der Peripherie Neapels wird ein Jugendlicher von der Polizei
       > erschossen. Die Bewohner beklagen Willkür – nicht alle stimmen ihnen zu.
       
   IMG Bild: Nach dem Mord ergehen sich viele Italienier in Gruselromantik über ein kaputtes, mafiaversuchtes Viertel in Neapel.
       
       BERLIN taz | Davide Bifolco wurde zufällig erschossen. Sagt die Polizei.
       Der Schuss traf ihn mitten ins Herz, es war Mord. Sagt die Familie des
       knapp 17-Jährigen, sagen Freunde und Bewohner des neapolitanischen
       Problemviertels Traiano im Südosten der Stadt.
       
       Bei einer Demonstration für den Freitagnacht getöteten Jugendlichen gab es
       Sprechchöre: „Die Camorra beschützt dich, der Staat tötet.“ Nach Traiano,
       heißt es, fährt man nur aus einem Grund: Um auf dem größten Drogenmarkt
       Neapels – manche sagen: Europas – einzukaufen.
       
       Bifolco war gegen zwei Uhr nachts auf einem Motorroller unterwegs, auf dem
       noch zwei andere Jugendliche saßen. Die beiden Polizisten, die sie
       kontrollieren wollten, sagen, sie hätten einen 23-Jährigen erkannt, der auf
       ihrer Verhaftungsliste stand. Die Jugendlichen sagen, sie seien vor dem
       „Halt!“ der Carabinieri geflüchtet, weil der Motorroller nicht versichert
       gewesen ist. Als einer der beiden sie verfolgenden Polizisten den einen der
       beiden Mitfahrer stellte, habe sich der Schuss versehentlich gelöst. Sagt
       die Polizei.
       
       Die Polizisten hätten den Roller gerammt, seien ausgestiegen, einer habe in
       die Luft geschossen, der andere gezielt auf Davide. Sagen Zeugen. Von denen
       es bemerkenswert viele gibt, in einem Viertel, wo bei Mafiamorden nie
       jemand irgendetwas gesehen hat. „Wenn ein Polizist schießt, dann löst sich
       plötzlich die Zunge“, schreibt der neapolitanische Journalist Arnaldo
       Capezzuto, der seit Jahren über die Mafia berichtet, in seinem Blog.
       
       „Wenn aber mitten auf der Straße ein von Kugeln durchlöcherter Kadaver
       gefundenen wird, dann hat niemand etwas gesehen.“ Noch nicht mal auf die
       Frage, wer die allseits bekannten Camorra-Familien Pucinelli und Perrella
       seien, die das Viertel beherrschen, wüssten die Leute eine Antwort.
       
       ## Gruselromantik des Mainstreams
       
       Die entgegengesetzte Position in der in italienischen Medien geführten
       Debatte um die Tragik dieses Todes – die auch Journalist Capezzuto
       keineswegs abstreitet – vertritt der ebenfalls aus Neapel stammende
       Schriftsteller Erri De Luca im Interview mit der linken Zeitung il
       manifesto. Er sieht Traiano nur als ein Beispiel, wie die Polizei bewusst
       mörderisch in den Gegenden agiert und Grundrechte außer Kraft setzt, die
       sie als Gefahrenzonen definiert – so auch etwa im Susatal, wo gegen den Bau
       der Hochgeschwindigkeitsstrecke gekämpft wird: De Luca muss sich derzeit
       vor Gericht verantworten, weil er zur Sabotage des Bahnprojekts aufgerufen
       hat.
       
       Italiens Mainstream allerdings ergeht sich in Gruselromantik über ein
       kaputtes, mafiaversuchtes Viertel, in dem die Dealer keine Blumen am Tatort
       zulassen, weil das den dort ablaufenden Drogenhandel behindern würde.
       
       Davide Bifolco hatte keine Vorstrafen. Gegen den 22 Jahre alten Polizisten
       wird nun wegen fahrlässiger Tötung ermittelt.
       
       9 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
       ## TAGS
       
   DIR Mafia
   DIR Gomorrha
   DIR Camorra
   DIR Neapel
   DIR Italien
   DIR Camorra
   DIR Mafia
   DIR Neapel
   DIR Papst Franziskus
   DIR Italien
   DIR Camorra
   DIR Mexiko
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kolumne Der Rote Faden: Krieg unterm Küchenfenster
       
       Warum die linke Musikszene Neapels die Verbrechen der Camorra ignoriert
       hat. Und was das mit einem kriminellen Drogenfahnder in Kempten zu tun hat.
       
   DIR Vatikan und Mafia: Das Kreuz mit den Killern
       
       Das Verhältnis zwischen Mafia und Vatikan ist komplex. Und die katholische
       Kirche tut sich schwer damit, sich von der Mafia zu distanzieren.
       
   DIR Mit einem Krimiautor durch Neapel: Beziehungsloses Gewusel
       
       Neapel, seine Immigranten, die kleinen Diebe und die einfachen Leute, die
       kriminell werden, um zu essen, das ist Stoff für Maurizio de Giovannis
       Romane.
       
   DIR Kirche in Italien: Papst exkommuniziert Mafia
       
       Die, die „den Weg des Übels gewählt“ hätten, seien nicht Teil der Kirche:
       Erstaunlich scharf verurteilt Papst Franziskus Mafia-Mitglieder und besucht
       ein Gefängnis.
       
   DIR Illegale Abfallentsorgung in Italien: Soldaten gegen Müllmafia
       
       Auf dem Landstrich zwischen Neapel und Caserte wird massenweise Müll
       verbrannt. Die Umweltverschmutzung im „Todesdreieck“ soll jetzt gestoppt
       werden.
       
   DIR Fernsehserie über die Camorra: „Unterhaltung kann ein Vehikel sein“
       
       Roberto Savianos Mafia-Buch „Gomorrha“ ist ein Welterfolg. Der Autor über
       die dazugehörige TV-Serie und seine Hoffnung auf Freiheit.
       
   DIR Boss verhaftet, Mafia lebt: Die Hässliche, der Kahle, der Affe
       
       Wieder ist in Mexiko ein Drogenboss verhaftet worden, die Behörden bejubeln
       sich selbst. Mit der Wirklichkeit haben diese Erfolgsmeldungen herzlich
       wenig zu tun.