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       # taz.de -- Antisemitismus in Deutschland: Verbale Brutalität
       
       > Juden sind keine Deutschen und Deutsche sind Leidtragende: Beobachtungen
       > aus einer Politikstunde an einer westdeutschen Berufsschule.
       
   IMG Bild: Geschichte zum Nachempfinden: Nachbildung des Tagebuchs der Anne Frank in der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main.
       
       Ist der Lehrer der Einzige, der nichts hört? Er sitzt am Pult und lässt
       sich nichts anmerken. Es kommt mir vor, als beugten sich meine Mitschüler
       besonders tief über ihre Zeichenbretter. Wir sind Tischlerlehrlinge im
       dritten Lehrjahr. Zwei in der hinteren Bank ereifern sich halblaut:
       „Arschgefickte Juden … sind an allem schuld.“
       
       „Jude“ ist ein gebräuchliches Schimpfwort an der Berufsschule in
       Westdeutschland. Ein 19-Jähriger erklärt mir, Juden seien Wucherer. Sie
       trieben Menschen in den Ruin.
       
       Ich staune, wie offen im Unterricht Bemerkungen fallen wie „Schufa, alles
       Juden“. Als einmal ein Schüler ruft: „Aldi gehört den Juden“, reagiert der
       Lehrer: „Dazu könnte ich jetzt etwas sagen. Aber?“ Er lässt es. Ich bin
       Mitte fünfzig, fast so alt wie er. Und rund fünfunddreißig Jahre älter als
       meine Mitschüler.
       
       Inzwischen hetzen die beiden Hinterbänkler weiter gegen „Drecksjuden“. Ein
       Mitschüler warnt sie leise: Wegen so etwas sei er schon mal fast von der
       Schule geflogen. Erst als ich die beiden laut anspreche – „Man muss nicht
       jeden Dreck, den man im Kopf hat, rauslassen!“ –, schweigen sie.
       
       Nun bestellt der Lehrer die Provokateure zu sich. Mir erklärt er, den
       jungen Leuten fehlten Grundlagen. Das will er in der nächsten Politikstunde
       ändern.
       
       ## Deutschland? Autos!
       
       Er schreibt „Deutschland“ an die Tafel. Die Schüler assoziieren Autos,
       Merkel, fehlende Autarkie bei der Energieversorgung, Wurst und Bier.
       Schließlich nennt einer Nazis. Eine Schülerin ergänzt: „Weiße Rose“.
       
       Wofür dieser Name steht, weiß sie nicht. Ein Schüler ist auf eine nach den
       Geschwistern Scholl benannte Schule gegangen und gibt Informationen. Der
       Lehrer nimmt das Stichwort „Nazis“ auf: Wir hätten ein Problem mit Neonazis
       in den neuen Ländern. Dort habe es keine Vergangenheitsbewältigung gegeben.
       
       Dann bemängelt er, dass niemand den Begriff Demokratie genannt habe. Sie
       erscheine offenbar so normal, dass keinem mehr auffalle, wie wichtig sie
       sei. Es sei aber nicht selbstverständlich, dass man sich sicher auf der
       Straße bewegen könne. Dieser Bewusstseinsmangel sei die Ursache für das
       fehlende gesellschaftliche Engagement der heutigen Jugend.
       
       Mich reizt es, seinen Monolog zu unterbrechen. Doch meine Wortmeldung
       könnte leicht zum Dialog ausufern. Ich war Fernsehjournalist, mache die
       Lehre, weil ich nicht mehr konnte. Wie ich inzwischen weiß, litt ich seit
       Jahren an Morbus Parkinson.
       
       ## Film statt Lehrer
       
       Die weitere Argumentation überlässt der Pädagoge einem Film. Für einige
       Gelegenheit zum Abschalten mit dem Kopf auf der Bank. Sie sehen nicht
       einmal auf, als Joseph Goebbels brüllt: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Die
       Menge im Berliner Sportpalast tobt, Bomben fallen auf deutsche Städte. Eine
       Totale zeigt Ruinen soweit das Auge reicht. Die Deutschen hungern. In den
       Konzentrationslagern stapeln sich ausgemergelte Leichen. „Gotteskinder“
       raunt der Kommentar zum Gesicht eines Toten in Nahaufnahme. Kinder in
       KZ-Kitteln zeigen ihre tätowierten Unterarme: „Sie haben ihren Namen
       vergessen.“
       
       Eine Schülerin greint: „Die armen Kinder. Haben ihre Namen vergessen.“ Will
       sie provozieren oder drückt sie ihr Unbehagen aus? Der Lehrer hakt nicht
       nach. Er erklärt nicht, wie Kinder im KZ von Eltern getrennt und von da an
       mit ihrer eintätowierten Häftlingsnummer angesprochen wurden. Die Autoren
       des Films wollen Mitgefühl erzeugen. Nichts eignet sich dazu besser als
       leidende Kinder. Doch ohne Informationen wirkt das Vergessen des Namens
       banal gegen die Not in den Ruinenstädten. Der Lehrer bleibt abstrakt. Das
       Vergessen sei womöglich „Folge von Traumatisierung“. Ob der Begriff den
       Schüler etwas sagt, will er nicht wissen. Die meisten haben Haupt- oder
       Realschulabschluss, einige Fachabitur.
       
       ## Die Schüler wissen nichts
       
       In den Pausen äußern einige Mitschüler ihren Unmut. Auch dort sind sie
       vorsichtig. Widerwillig erklären sie, das alles schon so oft gehört zu
       haben. Aber sie wissen nichts.
       
       Mir lässt die Stunde keine Ruhe. Die Juden geschundene „Gotteskinder“ zu
       nennen schließt sie aus dem Kreis normaler Menschen aus. Ich fürchte, dass
       am Ende die Bilder siegen. Sie zeigen die Juden, wie die
       Nationalsozialisten sie sehen wollten: als verlauste, ausgemergelte, elend
       krepierte Gestalten – Opfer ohne Vorgeschichte. Auch „Opfer“ ist eine
       gebräuchliche Beleidigung unter Jugendlichen.
       
       ## 
       
       Ich bitte den Ethiklehrer um zwei Unterrichtseinheiten. Und informiere die
       Klasse über die massive Gewalt, mit der die Nazis die deutschen Juden aus
       der Gesellschaft ausgrenzten. Erkläre, dass sie Mitbürger, Kollegen und
       Nachbarn waren – Deutsche. Die Wortmeldungen zeigen, woher viele Schüler
       ihr Wissen haben: von ihren Großeltern.
       
       Ein Schüler verteidigt die Wehrmacht gegen den Vorwurf, sie habe einen
       verbrecherischen Krieg geführt. Sein Großvater habe ihm erzählt, wie es
       wirklich war. In dieser familiären Geschichte sind offenbar die Deutschen
       die Leidtragenden. Und Juden keine richtigen Deutschen.
       
       Auch die beiden Nachkommen türkischer Einwanderer tun sich mit
       antisemitischen Sprüchen hervor. Sie müssen sich ihrerseits von Mitschülern
       fragen lassen, was der Unterschied zwischen Juden und Türken sei. Antwort:
       „Die Juden haben es hinter sich.“ Was mir als unerträglicher Affront
       erscheint, nehmen die beiden äußerlich ungerührt hin.
       
       Für meine Mitschüler geht das alles zusammen: Sie beleidigen sich und
       lachen sich an. Ich erlebe sie als sensibel und sozial eingestellt;
       zugleich als regellos bis zur verbalen Brutalität. Es ist kaum
       herauszufinden, wann sie provozieren und was sie ernst meinen.
       
       Und die fehlenden Grundlagen? Die schreibt der Lehrer am Ende der Stunde an
       die Tafel: den Tag der Kapitulation der Wehrmacht, die ersten Tagungen des
       Parlamentarischen Rates und der Volkskammer: „Wichtig, bitte merken für die
       Gesellenprüfung“. Wir schreiben alles ab.
       
       12 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Moes
       
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