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       # taz.de -- Filmfestspiele in Venedig: Ethan Hawke als Drohnenpilot
       
       > Dieses Jahr wird in Venedig auf gesellschaftliche Relevanz gesetzt. Das
       > kann auch mal schiefgehen. Und: Interessante Frauenfiguren fehlten
       > wirklich.
       
   IMG Bild: Glücklicher Preisträger des Goldenen Löwen: Roy Andersson.
       
       Roy Andersson trug keine Vampirzähne, als er am Samstagabend in der Sala
       Grande den Goldenen Löwen entgegennahm und in einer schüchtern
       vorgetragenen Dankesrede den Humanismus von Vittorio de Sicas Film
       „Fahrraddiebe“ pries. Schade, denn extralange Vampirzähne aus Plastik
       spielen in Anderssons Film „En duva satt på en gren och funderade på
       tillvaron“ („A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence“) eine große
       Rolle, außerdem ein Lachsack und eine den ganzen Kopf umfassende
       Gummimaske.
       
       Zwei Figuren ziehen als fliegende Händler umher, ihre Ware besteht aus den
       drei erwähnten Scherzartikeln, die Geschäfte gehen schlecht. Andersson
       setzt das in Tableaux in Szene, die an die Theaterabende von Christoph
       Marthaler und Anna Viebrock erinnern. Handlungen und Repliken werden wieder
       und wieder repetiert, Volkslieder gesungen, der Humor orientiert sich am
       Sketch, in den Innenräumen hat seit 50 Jahren niemand mehr renoviert, alle
       Figuren tragen eine Schicht weißer Schminke im Gesicht.
       
       Der Film entwickelt eine depressive Schrulligkeit und hat dabei selbst
       manchmal etwas von einem Scherzartikel. Für die Virtuosität, mit der dies
       geschieht, kann man ihn bewundern, umso mehr, als er die engen Grenzen des
       Erzählkinos überschreitet; man kann sich an den verschleppten Scherzen und
       der Gedimmtheit der Figuren aber auch allzu leicht sattsehen.
       
       Dass der Film des 71 Jahre Jahre alten schwedischen Regisseurs die
       wichtigste Auszeichnung der diesjährigen Mostra bekommen hat, ist also eine
       etwas erratische Entscheidung und zugleich Reflex auf ein Programm, das
       keinen klaren Favoriten hervorbrachte, viel Mittelmäßiges enthielt und
       weniger auf künstlerisch wagemutige, experimentierfreudige Positionen denn
       auf gesellschaftlich relevante Themen setzte.
       
       Letzteres ging manchmal gut, etwa im Fall von Joshua Oppenheimers
       beeindruckendem Dokumentarfilm „The Look of Silence“, der von den
       politischen Morden im Indonesien der 60er Jahre handelt und davon, wie
       wenig diese Morde je als Verbrechen anerkannt wurden; Oppenheimer gewährt
       Einblicke in eine Gesellschaft, in der die Hinterbliebenen der Getöteten
       darunter leiden, dass die Täter von einst noch immer an der Macht sind.
       
       ## Entgrenzter Umgang mit Körpern
       
       An seinem Film mag das eine oder andere Skepsis auslösen, etwa der Umstand,
       dass der vollkommen entgrenzte Umgang mit Körpern, den die Mörder pflegten,
       stark betont wird, während leisere Formen des Schreckens weniger Beachtung
       finden; „The Look of Silence“ neigt ein wenig dazu, Gräuel auszustellen.
       Trotzdem ist der Große Preis der Jury für den Film eine gute Wahl.
       
       Oppenheimer konnte am Samstagabend nicht persönlich in der Sala Grande
       zugegen sein, weil ihn ein Unwetter am Flughafen von Chicago festhielt; er
       sandte eine Videobotschaft, in der er von „Heilung, wenn nicht gar
       Abschluss“ für Täter und Opfer in Indonesien sprach. Im Anschluss betonte
       einer der Juroren, der Schauspieler Tim Roth, wie wichtig dieser Film für
       ihn gewesen sei: Es war, „wie der Geburt der eigenen Kinder zuzusehen“.
       Eine deutliche Art zu sagen, wem Roth den Goldenen Löwen gewünscht hätte.
       
       Die Entscheidung, dem russischen Regisseur Andrej Kontschalowski den
       Silbernen Löwen für die beste Regie zu verleihen, ist so grundsympathisch
       wie sein Film „Belye nochi pochtalona Alekseya Tryapitsyna“ („The Postman’s
       White Nights“), eine Arbeit, die Kontschalowski mit Laiendarstellern in
       einem abgelegenen Dorf im Norden Russlands gedreht hat. Schön für Berliner
       Lokalpatrioten ist, dass der in Kreuzberg lebende Kaan Müjdeci für „Sivas“
       den Spezialpreis der Jury erhielt. Das Spielfilmdebüt kreist um einen
       Jungen, der einen bei einem Hundekampf verletzten Hirtehund pflegt, bevor
       er ihn zu neuen Kämpfen antreten lässt.
       
       Was in Erzählungen von Kindern und Tieren lieblich ist, verschiebt Müjdeci
       umso weiter ins Raue, je härter er diesen Jungen darum ringen lässt, in die
       Männergesellschaft des anatolischen Dorfs aufgenommen zu werden. In einer
       schönen Szene steht das Kind auf dem Dach eines Hühnerstalls, reißt sich
       das T-Shirt vom Leib, schreit seinen Vater und seinen älteren Bruder an und
       wirft mit Steinen nach ihnen: eine Tirade, die eine beeindruckende Fülle
       von Flüchen und Beleidigungen umfasst.
       
       ## Anspruch und Umsetzung
       
       Wenn Filmfestivals sich mit Filmen schmücken wollen, die gesellschaftliche
       Relevanz beanspruchen, kann vieles schiefgehen. Ein Beispiel hierfür war
       Ramin Bahranis „99 Homes“, eine einfältige Geschichte über die Konsequenzen
       der Subprime-Krise in Florida, ein anderes, besonders ärgerliches, „Good
       Kill“ von Andrew Niccol, die Geschichte eines Piloten der US-amerikanischen
       Armee. Dieser Mann, gespielt von einem kantig-steifen Ethan Hawke, steuert
       nach mehreren Einsätzen im Irak keine Flugzeuge mehr, sondern arbeitet auf
       einem Militärstützpunkt in der Nähe von Las Vegas. Sein Tagwerk besteht
       darin, Drohnen in Pakistan zu lenken und Bomben auf Menschen abzuwerfen,
       die als Terroristen gelten.
       
       Keine Frage – das ist ein spannendes Sujet, doch in der Regie von Niccol
       wird daraus vor allem eine Mitleidsnummer, da die Not des Piloten alle
       Aufmerksamkeit absorbiert. Wie sein Gewissen, der Alkohol, Eheprobleme und
       die Sehnsucht, wieder ein richtiges Flugzeug zu fliegen, ihm zusetzen,
       darum kümmert sich der Film, nicht um die Frage, inwiefern der Einsatz von
       Drohnen in Pakistan völkerrechtlich legitimiert ist oder eben nicht.
       
       Den Leuten, die bei den ferngesteuerten Bombenabwürfen ums Leben kommen,
       schenkt „Good Kill“ gerade das bisschen Interesse, das nötig ist, die
       Gewissensnot des Protagonisten zu begründen, und manchmal darf eine
       Nebenfigur plakativ fragen: „Das war doch jetzt ein Kriegsverbrechen,
       oder?“
       
       Noch etwas gab es, was verstimmte: In den 20 Wettbewerbsfilmen tauchten
       kaum interessant ausgestaltete Frauenfiguren auf; Protagonistinnen gab es
       in 2 von 20 Filmen. Dies zu monieren heißt nicht, eine Quote für
       Filmfiguren zu fordern. Stattdessen geht es um ein Unbehagen angesichts
       einer nicht wahrgenommenen Möglichkeit. Denn das weite Reich der Fantasie
       und der Fiktion verkleinert sich, wenn man Geschichten wieder und wieder
       über männliche Protagonisten erzählt. Deren innere Kämpfe müssen sich gar
       nicht fundamental von denen weiblicher Figuren unterscheiden, aber es ist
       schlichtweg eintönig zu sehen, wie Frauenfiguren Tiefe und
       Mehrdimensionalität verwehrt bleiben.
       
       ## Zur Abwechslung: „Olive Kitteridge“
       
       Als zur Halbzeit des Festivals Lisa Cholodenkos Miniserie „Olive
       Kitteridge“ außer Konkurrenz präsentiert wurde, sorgte dies für
       hochwillkommene Abwechslung; die für den Bezahlsender HBO produzierte Serie
       kreist um eine von Frances McDormand gespielte Figur, eine Lehrerin in
       einem Küstenstätdtchen in Maine, um deren Nöte, Sorgen und um die wenigen
       Freuden, die sie hat. Interessanterweise waren es oft Filme in der Reihe
       Venezia Classici, die die Sache anders angingen, etwa das Melo „Senza
       pietà“ von Alberto Lattuada (1948), das in den Ruinen einer ligurischen
       Stadt eine zarte Liebesgeschichte zwischen einer Italienerin und einem
       afroamerikanischen Soldaten entspinnt, oder Ömer Lüfti Akads „Gelin“ („The
       Bride“), der 1973 in der Türkei ins Kino kam und von einer jungen Frau
       erzählt, die mit ihrem Mann aus Anatolien zu dessen Familie nach Istanbul
       zieht.
       
       Wie repressiv es zugeht in diesem Dorf, das in die Stadt verschoben wurde,
       setzt der Film mit melodramatischer Wucht in Szene – und zwar so, dass
       deutlich wird, wie sehr die Frauen selbst am Fortbestand von patriarchalen
       Verhältnissen beteiligt sind. „Gelin“ und „Sivas“ korrespondieren auf eine
       schöne, klingende Art über die Jahrzehnte und die Festivalsektionen hinweg.
       
       Ein außer Konkurrenz gezeigter Kurzfilm des 105 Jahre alten Regisseurs
       Manoel de Oliveira, „O Velho do Restelo“ („The Old Man of Belem“), stellt
       auf verspielt-essayistische Weise die Frage, wie die Fiktionen in die Welt
       kommen und wie sie sich darin bewegen.
       
       Schriftsteller wie Miguel de Cervantes oder Luís Vaz de Camoes begegnen
       sich in einem Lissaboner Park der Gegenwart und debattieren; einmal ist
       kurz ein Gemälde zu sehen; in der Mitte sitzt Cervantes, um ihn herum
       wuseln die Kreaturen, die er im Laufe seines Lebens erfunden hat. Der
       Erfinder und das Erfundene teilen sich denselben Raum, es herrschen dichtes
       Gedränge, Überschuss, Fülle; keine Stelle des Bildes bleibt leer. Malte man
       ein solches Bild für den Wettbewerb der 71. Mostra internazionale d’arte
       cinematografica, es fiele deutlich ärmer aus.
       
       7 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Nord
       
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