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       # taz.de -- Die Wahrheit: Forcierte Lügen
       
       > Wenn es keinen Gott gibt, kann es auch keine Gotteskrieger geben: Warum
       > man Islamisten nicht mehr Islamisten nennen sollte.
       
   IMG Bild: Klassisches Vorbild für die Bilderstürmer des „Islamischen Staates“ ist der Film „Lawrence of Arabia“
       
       Krieg vernebelt die Sinne und trübt das Sprachvermögen. Der Krieg ist die
       hohe Zeit der Phrasen. Was insbesondere der dümmste aller Gemeinplätze
       zeigt, der pünktlich zu jedem Kriegsbeginn auftaucht: „Die Wahrheit ist das
       erste Opfer des Krieges.“ Im Krieg wird am meisten gelogen, heißt es.
       Tatsächlich aber wird nicht nur im Krieg gelogen. Bereits in der Zeit davor
       gibt es keine zwingende Wahrheit. Schließlich ist das wesentliche Mittel
       der Politik die Lüge. Und der Krieg ist nur die Fortsetzung der Politik mit
       erweiterten Mitteln. Krieg ist die Zeit der forcierten Lüge.
       
       Kürzlich bezeichnete die Süddeutsche Zeitung die Fanatiker des
       selbsternannten „Islamischen Staats in Irak und Syrien“ (ISIS) als
       „Pol-Pot-Islamisten“. So wie in den siebziger Jahren die Roten Khmer unter
       Pol Pot Kambodscha mit ihrer radikalen Ideologie in eine gesellschaftliche
       Steinzeit befördern wollten und dabei Millionen Menschen töteten, so würden
       nun die ebenfalls in schwarze Kleidung gewandeten ISIS-Kämpfer einen „neuen
       Bildersturm“ auslösen, meinte die SZ-Korrespondentin Sonja Zekri und ging
       nach dem bewährten journalistischen Grundsatz vor, dass man etwas Neues mit
       alten Bildern erklären muss, um dem Leser ein Phänomen verständlich zu
       machen. Ähnlich verfuhr kurz darauf der Schriftsteller Navid Kermani, als
       er in der Berliner Zeitung vor einer „Pol-Pot-Version des Islam“ warnte.
       
       Längst haben sich die gängigen Bezeichnungen abgenutzt, weil sie erstarrt
       sind. So agierte der „Terrorist“ früher als Einzeltäter oder trat in
       kleinen Gruppen auf. Doch spätestens seit dem Elftenseptember sind
       „Terroristen“ allgegenwärtig. Kürzlich wurde bekannt, dass die USA
       Hunderttausende Personen auf einer „Terrorliste“ führen. Der amerikanischen
       Terrorpanik ist es geschuldet, dass unzählige Personen inzwischen
       „Terroristen“ sind oder zumindest terrorverdächtig. In dieser massenhaften
       Übertreibung verliert „der Terrorist“ sein Alleinstellungsmerkmal.
       
       Mehr denn je sind „Terroristen“ unterwegs, neuerdings ergänzt um das Wort
       „Miliz“, das die Asymmetrie des Krieges zwischen Staaten und
       nichtstaatlichen Organisationen widerspiegeln soll, aber auch den
       sprachlichen Beigeschmack hat, dass da einer am Krieg beteiligt sei, der
       normalerweise gar nicht mittun dürfe. Ist Krieg nicht etwas für Nationen
       und Armeen? Was wollen dann diese Amateure dabei?
       
       ## Kein Gott, keine Gotteskrieger
       
       In der Ukraine treiben nach Meinung des Westens „prorussische Separatisten“
       ihr Unwesen, während für die russischen Medien „Volksmilizen“ ihre
       „neurussische Heimat“ gegen eine „faschistische Clique“ verteidigen. Sich
       vom Volkskörper separieren – das mögen gerade die Deutschen nicht, während
       Volksgenossen in Russland immer gut ankommen. Der Neo-Imperator Wladimir
       Putin handelt schließlich stets im Sinne des Volkes, das dann allerdings
       wie in allen Kriegen am Ende die Rechnung zahlen muss. Aber klug, wie er
       ist, hat Putin seine völkerrechtswidrige Annexion eines fremden
       Staatsgebietes sprachlich vorbildlich vorbereitet. Und im Propagandakrieg
       ist jede Lüge erlaubt.
       
       So verkündete nach dem vorerst letzten Gazakrieg, während die israelische
       Armee abrückte, ein Sprecher der Hamas im internationalen Fernsehen, dass
       „Israel als Verlierer vom Schlachtfeld“ ziehe. Hinter ihm waren Bilder
       eines völlig zerstörten Landstrichs zu sehen, in dem es keine Gewinner oder
       Verlierer mehr gab – erst recht nicht eine siegreiche Hamas. Diese Mischung
       aus Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn lässt die Übertreibungen
       entstehen, die den Krieg besonders in Arabien prägen. Und längst haben sie
       sich in der vermeintlich objektiven Nachrichtensprache westlicher Medien
       eingenistet.
       
       Selbst wenn sich die ISIS-Soldaten, die auf ihren schwarzen Fahnen
       buchstäblich die Worte des Koran vor sich hertragen, namentlich auf den
       Islam berufen, haben sie mit dem Islam so wenig zu tun wie die Roten Khmer
       mit dem Marxismus eines bärtigen Herrn aus Trier. Im Namen eines Gottes
       einen Krieg zu führen, ist unmöglich. Denn es gibt keinen Gott und erst
       recht keinen Gott, für den ein Krieg geführt werden kann. Deshalb kann es
       auch keine „Gotteskrieger“ geben, wie es immer wieder in den Medien heißt.
       Wer die Soldateska der ISIS derart in höhere Sphären befördert, macht sich
       mit ihr gemein und tappt in ihre Falle. Denn es geht den Fanatikern einzig
       und allein um Macht, vor allem die Macht der (sprachlichen) Bilder. Die
       spirituelle Note ist nichts als Beiwerk.
       
       Allein deshalb sollte man sie auch nicht „Islamisten“ nennen. Umgekehrt
       wäre es schon sehr merkwürdig, wenn man die im Irak kämpfenden
       amerikanischen Söldner als „Christisten“ bezeichnen würde. Wobei diese
       Kräfte mit Dollar-Noten bezahlt werden, auf denen das Motto „In God we
       trust“ prangt.
       
       ## Soldaten sind Mörder
       
       Mit Worten kann man keine Kriege gewinnen. Überlegungen zur Sprache in
       Kriegszeiten scheinen lediglich akademischer Natur zu sein. Um gewalttätige
       Mörder zu besiegen, braucht es noch gewalttätigere Mörder oder brutalere
       Waffen. Und doch kann Sprache einen anderen Beitrag leisten.
       
       So könnte man zum Beispiel verhindern, dass deutsche Jugendliche in den
       Religionskrieg ziehen, indem man ihnen vermittelt, dass das von der
       Popkultur geprägte Auftreten der sogenannten Islamisten nichts als Lüge
       ist. Dass die langhaarigen, bärtigen Krieger allenfalls die verbrauchte
       Orient-Sehnsucht der Abendländler bedienen. Dass ein Krieg kein
       Karl-May-Festspiel ist, sondern ein von Versagern betriebenes schmutziges
       Geschäft.
       
       Wer den ehrbaren Beruf des Pizzabäckers an den Nagel hängt, um ein
       Selbstmordattentat zu begehen, ist keine Null, weil er Pizzabäcker gelernt
       hat, wie es mit leicht hämischem Unterton in westlichen Medien suggeriert
       wird. Er ist ein Versager, weil er zum Massenmörder wurde und sich im Namen
       einer Religion für politische oder strategische Interessen benutzen ließ.
       
       Dringend notwendig aber ist es, die sich selbst übertreibende Rhetorik des
       Krieges zu durchbrechen. Steigerungsformen müssen heruntergeregelt werden,
       Bilder abgerüstet. Man muss sich aus dem Wortfeld des Krieges lösen – zum
       Beispiel, indem man ein zivilgesellschaftliches Vokabular verwendet. Warum
       nicht die Fanatiker der ISIS klar und deutlich als „Mörder“ bezeichnen? Sie
       sind keine „Terroristen“ oder „Gotteskrieger“. Sie sind Soldaten. Und
       Soldaten sind Mörder, um das bekannte Wort Tucholskys aufzugreifen.
       Tucholskys Leistung bestand darin, dass er den Krieg seiner Legitimation
       entkleidete. Der Soldat lernt nichts als das Töten, und auch wenn für ihn
       der Krieg mit Werten wie Ehre und Ruhm verbunden ist, wird er nichts
       anderes tun als ein gewöhnlicher Mörder: Menschen töten.
       
       5 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Ringel
       
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