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       # taz.de -- Preise im Gesundheitssystem: Wie teuer ein Medikament ist
       
       > 700 Euro für eine einzige Pille, ist das ethisch vertretbar?
       > Kosten-Nutzen-Berechnungen im medizinischen Bereich sind machbar.
       
   IMG Bild: Nicht jeder kommt mit einem Billig-Medikament aus
       
       Wenn ein neues Arzneimittel auf den Markt kommt, stellt sich die zentrale
       Frage: Haben die Patientinnen und Patienten einen Vorteil davon? Leben sie
       länger, haben sie weniger Beschwerden und Nebenwirkungen oder eine
       verbesserte Lebensqualität als mit den bisherigen Medikamenten? Und daran
       schließt sich an: Wie viel soll ein solidarisch finanziertes
       Gesundheitssystem mit gesetzlichen Krankenkassen für diesen sogenannten
       Zusatznutzen bezahlen? Die erste Frage kann eine Nutzenbewertung, die
       zweite Frage eine Kosten-Nutzen-Bewertung (KNB) beantworten. Beide sind
       seit vielen Jahren im Sozialgesetzbuch V verankert.
       
       ## Bei Verhandlungen fehlt oft die KNB
       
       Seit 2011 müssen Hersteller nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz
       (AMNOG) den Zusatznutzen eines neuen Wirkstoffs im Vergleich zur derzeit
       besten Versorgung belegen. Dieser wird in einer Nutzenbewertung überprüft.
       Um den Preis verhandeln Hersteller und Kassen aber hinter verschlossenen
       Türen. Dabei fehlen die Informationen aus einer KNB, die erst nach dem
       Scheitern eines Schiedsverfahrens vorgesehen ist.
       
       Doch die Ergebnisse einer KNB könnten ein wichtiger Baustein in diesen
       Preisverhandlungen sein. Das hat das IQWiG mit seiner KNB von vier
       Antidepressiva im Jahr 2013 gezeigt. Bei einer KNB stellt man den Nutzen
       verschiedener Arzneimittel oder anderer Therapien in einem Krankheitsgebiet
       allen Kosten für die Versorgung der Patienten gegenüber: Kosten für
       ambulante und stationäre Behandlung, Kosten für die Arzneimittel selbst,
       aber auch für weitere Therapien wie eine Psychotherapie und
       Anschlussbehandlungen. Man vergleicht also nicht einfach nur die Preise von
       Arzneimitteln. Die Wege, die Patienten während ihrer Versorgung gehen (etwa
       vom Allgemeinarzt zur Fachärztin oder in die Klinik und so weiter), bildet
       man dann in einem mathematischen Modell des Behandlungsablaufs einer
       Krankheit ab. Anschließend werden in dieses Modell Daten zum Nutzen, zum
       Schaden durch Nebenwirkungen sowie zu allen Kosten der Behandlung
       eingespeist.
       
       ## Der Preis eines Lebensjahres
       
       Schließlich betrachtet man ein solches Modell über einen festgelegten
       Zeithorizont, zum Beispiel zehn Jahre. Für eine große Zahl von
       Modellpatienten wird saldiert, wie viele Herzinfarkte beispielsweise
       vermieden werden könnten und wie sich dies auf die Kosten auswirkt. Sowohl
       für den Nutzen als auch für die Kosten bildet man dann eine Differenz der
       Ergebnisse für jeweils zwei Therapien. Daraus resultiert ein
       Kosten-Nutzen-Verhältnis, das sich beispielsweise so ausdrücken lässt: Um
       ein Lebensjahr durch einen vermiedenen Herzinfarkt zu gewinnen, würde die
       Versorgung mit Arzneimittel X 3.000 Euro mehr kosten als die Versorgung mit
       einer Vergleichstherapie Y.
       
       Ein solches Kosten-Nutzen-Verhältnis sagt aber noch nichts darüber aus, ob
       der Preis angesichts des Zusatznutzens angemessen wäre. Für diese
       Entscheidung benötigt man eine Orientierung, bis zu welchem
       Kosten-Nutzen-Verhältnis die Solidargemeinschaft bereit wäre, eine Therapie
       zu erstatten. In Großbritannien wurde dafür ein Schwellenwert festgelegt.
       Wenn für ein zusätzliches Lebensjahr in vollständiger Gesundheit mehr als
       30.000 Pfund durch eine neue Therapie aufgewandt werden müssen, wird sie
       eher nicht zur Erstattung empfohlen. Andere Länder entscheiden dagegen von
       Fall zu Fall.
       
       ## Vorschlag: Die Effizienzgrenze immer berücksichtigen
       
       In Deutschland hat das IQWiG die sogenannte Effizienzgrenze vorgeschlagen.
       Mit dieser Methode lassen sich die Ergebnisse so darstellen, dass auf einen
       Blick erkennbar wird, welche Arzneimittel im Verhältnis zu ihrem Nutzen
       einen angemessenen oder unangemessenen Preis haben. Konkret müssen
       Arzneimittel, deren Nutzen und Kosten unterhalb der Effizienzgrenze liegen,
       ihren Preis senken, diejenigen, die darüber liegen, dürften ihren
       derzeitigen Preis beibehalten. Vor dem Hintergrund der aktuellen
       „Marktlage“ gibt sie somit eine Orientierung.
       
       Allerdings werden in keinem Land der Welt die Ergebnisse einer KNB eins zu
       eins umgesetzt. Vielmehr werden auch andere Kriterien berücksichtigt wie
       etwa Fragen der gerechten Verteilung oder der Schwere der Krankheit.
       Überhaupt ist die KNB kein Allheilmittel, da sie keinen centgenauen Preis
       für ein neues Arzneimittel liefern kann. Sie schafft Transparenz und damit
       Entscheidungsgrundlagen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
       
       Wie in jedem Feld gibt es auch hier Kontroversen: So gehen die Ansichten
       auseinander, wie man unterschiedliche oder sogar gegenläufige Wirkungen
       eines Arzneimittels, etwa die Verbesserung der Lebensqualität bei
       gleichzeitiger Verstärkung einer Nebenwirkung, auf einen gemeinsamen Nenner
       bringen kann. Strittig ist auch, ob und wie berücksichtigt werden soll,
       wenn sich zum Beispiel ein vermiedener Herzinfarkt auf die Arbeitsfähigkeit
       auswirkt. Die Ausgaben der Kassen betrifft dies nicht.
       
       Die Kosten-Nutzen-Bewertung könnte einen höheren Stellenwert bei der
       Entscheidungsfindung im deutschen Gesundheitssystem haben. Sie ist
       methodisch fundiert und brächte Transparenz in die Preisgestaltung. Wecken
       wir das Dornröschen Kosten-Nutzen-Bewertung aus seinem Schlaf.
       
       2 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Gerber-Grote
       
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