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       # taz.de -- Utopie und Unabhängigkeit: Der kurdische Traum
       
       > Die Kurden waren in ihrer Geschichte Opfer und Täter. Geeint hat sie
       > immer der gemeinsame Feind. Was wäre, wenn es einen eigenen Staat gäbe?
       
   IMG Bild: Kurden im Irak feiern das persische Neujahrsfest in Kirkuk.
       
       Vielleicht gibt es einen kurdischen Traum. Und vielleicht findet man ihn am
       deutlichsten formuliert in den Versen der kurdischen Version von Romeo und
       Julia, der Liebestragödie „Mem û Zîn“, die erstmals im 17. Jahrhundert vom
       kurdischen Philosophen und Dichter Ahmadi Khani aufgeschrieben wurde. Bis
       dahin erzählten sich die Kurden das Epos in allen Gebieten, in denen sie
       lebten, in ihrer jeweiligen Sprachen.
       
       Die Tragödie handelt von Mem und Zîn, die aus zwei kurdischen Clans stammen
       und nicht zueinanderdürfen. Sie sterben und gelangen selbst im Tod nicht
       zueinander, denn die Wurzeln der Boshaftigkeit und Zwietracht schlängeln
       sich zwischen ihren Gräbern. Der Zwist zweier Familien und ihre Sehnsucht
       nach Frieden liest sich wie eine Analogie zum kurdischen Volk:
       
       Wenn es nur Eintracht gäbe unter uns, / wenn wir nur einem zu gehorchen
       hätten, / er würde zu Vasallen machen / die Türken, Perser und allesamt /
       Wir würden unsere Religion und unsern Staat vollenden / Und uns in Weisheit
       und Gelehrsamkeit erziehen. 
       
       „Den Staat vollenden“ – der uralte Traum. Doch wer ist das Staatsvolk? Die
       Kurden leben verteilt im heutigen Staatsgebiet der Türkei, im Iran, Irak
       und in Syrien. Die Kurden waren einst ein Reitervolk, versorgten sich
       selbst und unterschieden ihre Herkunft nach Stammesfamilien. Entweder man
       gehörte zu einer oder zum Rest. Sie überfielen und plünderten. So
       entstanden Feindschaften und Rivalitäten.
       
       ## Unterdrückung und Diaspora
       
       Als die ersten Orientalisten im 19. Jahrhundert zu den Kurden reisten,
       fielen in den Reiseberichten oft die Begriffe „wild“ „roh“, „barbarisch“,
       Frauen galten als „unbezähmbar“. Bis auf ein paar Lehrstühle der Kurdologie
       im Ausland und einen einzigen in der Türkei haben die Wissenschaften sich
       nie ausführlich mit den Kurden beschäftigt. Mit der Gründung der
       wissenschaftlichen Disziplinen wurden die Kurden bereits verfolgt und ihre
       Identität geleugnet. So konnte man in der türkischen Republik nie über
       Kurden forschen, weil es sie offiziell gar nicht gab.
       
       Gäbe es eines Tages einen eigenen Staat, etwa in der heutigen Autonomen
       Region Kurdistan im Nordirak, kämen geschätzte 30 Millionen Menschen in
       Betracht, die derzeit Staatsbürger fremder Nationen sind. Der Großteil der
       Kurden lebt in der Türkei auf einem Gebiet, das ein Drittel des Landes
       ausmacht. Die zweitgrößte Zahl lebt in der Autonomen Region Kurdistan,
       weitere im restlichen Irak – wie beispielsweise die kurdischen Jesiden –,
       im Iran und in Syrien.
       
       ## Drei Sprachen, unzählige Dialekte
       
       Es gibt drei kurdische Sprachen und unzählige Dialekte und Vermischungen.
       In der Türkei wird Kurmandschi und Zazaki gesprochen und weitere Dialekte
       wie das Dimili. Geschrieben wird in lateinischer Schrift, die irakischen
       Kurden hingegen sprechen Sorani und schreiben in arabischer Schrift.
       Armenische Kurden verwendeten die kyrillische Schrift für ihre Werke. Gäbe
       es ein Kurdistan, wie wäre die Amtssprache? Und gäbe es eine Amtsreligion?
       Die Mehrzahl der Kurden sind Muslime der sunnitisch-orthodoxen Richtung,
       doch gibt es auch Christen, Juden, Aleviten, Jesiden und Schiiten unter
       ihnen.
       
       Erst mit der Gründung der Nationalstaaten bildete sich unter den Kurden
       eine kurdische Identität heraus. Als man den ehemaligen Stammesfürsten
       verbot, ihre Sprache zu sprechen, ihre Sagen und Märchen zu erzählen, ihre
       Traditionen zu leben und sie systematisch strukturell abzuhängen, zu
       verfolgen und zu vernichten, wurden die Kurden zu einem kurdischen Volk.
       Man denke dabei an den blutigen und 30 Jahre andauernden innertürkischen
       Krieg zwischen dem türkischen Militär und den Kurden oder daran, wie Saddam
       Hussein Zehntausende von Kurden vergaste. Aus ehemaligen Feinden wurden so
       Verbündete. Der Zorn machte sie zu Freiheitskämpfern. Ihr Ziel: ein eigenes
       und unabhängiges Kurdistan.
       
       ## Schmutzige Allianzen
       
       Kurden eint jedoch nicht nur eine gemeinsame Vertreibungsgeschichte. Auch
       sie haben schmutzige Allianzen geschmiedet und Andersgläubige vertrieben.
       So haben sich Kurden maßgeblich am Völkermord an den Armeniern mitschuldig
       gemacht. Und auch die jesidischen Flüchtlinge, die in den achtziger Jahren
       nach Deutschland flohen, erzählen wüste Geschichten darüber, wie sie in
       ihrer Heimat von ihren kurdischen Nachbarn stigmatisiert wurden. Heute
       bauen Kurden mithilfe der PKK den Jesiden Schutzkorridore aus dem Irak in
       die Türkei. Kurden waren in ihrer Geschichte Opfer und Täter. Es einte sie
       immer der gemeinsame Feind.
       
       Als das Osmanische Reich zerfiel, wurden die Kurden getrennt. Ein
       60-jähriger Kurde aus dem Irak und einer aus der Türkei teilen keinerlei
       gemeinsame politische oder historische Erfahrung. Während die türkische
       Regierung innerhalb ihrer Landesgrenzen 3.000 kurdische Dörfer zerstörte,
       gründeten die Kurden auf der irakischen Seite eine autonome Region mit
       eigener Währung und lokalem Parlament – und jeder Menge Erdöl. Und immer
       beobachteten die jeweiligen Regierungen, was mit den Kurden jenseits der
       eigenen Grenzen geschah.
       
       ## Differenzen und Miteinander
       
       Als die türkische Regierung sah, wie tausendfach irakische Kurden in den
       neunziger Jahren vor dem Regime von Saddam Hussein in die Türkei flohen,
       lockerte sie ihr kurdisches Sprachverbot. Bittere Fußnote hierbei: Die für
       die Verschriftlichung nötigen Buchstaben „Q“, „X“, „W“, die es im
       Türkischen nicht gibt, sind erst in diesem März legalisiert worden. Auch
       deshalb ist die kurdische Kultur – ebenfalls bedingt durch eine seit
       Jahrhunderten hohe Analphabetenrate –, zu der auch das anatolische
       Alevitentum gehört, lange eine orale Kultur geblieben.
       
       Die geografischen, ethnischen, religiösen, sprachlichen und politischen
       Differenzen führen dazu, dass man sich ernsthaft fragen muss, wie diese
       heterogene Gruppe jemals in einem Staat friedlich miteinander leben soll.
       Nimmt man den Traum eines geeinten Kurdistans ernst, sollte man die
       Differenzen mitdenken. Einen Kurden aus einer hinteranatolischen Provinz
       trennt sehr viel von einem nordirakischen Sprössling der mächtigen
       sunnitisch-orthodoxen Barsani-Sippe. So wie einst einen armenischen Kurden
       aus Diyarbakir offenbar so viel von seinem sunnitisch-kurdischen Nachbarn
       trennte, dass dieser es vorzog zuzuschauen, wie sein Nachbar vertrieben
       wurde, oder gar mitmachte, statt ihn zu schützen.
       
       ## Weit entfernter Traum
       
       Wie kann heute ein sunnitischer Kurde aus Bingöl, der Erdogans Regierung im
       Tausch für asphaltierte Straßen wählt und islamistische Tendenzen hat, mit
       einem alevitischen Kurden aus Tunceli zusammenleben, der seine Töchter
       nicht verschleiert und es vorzieht, seinen Kampf für Menschenrechte nicht
       für einen Wasseranschluss und Elektrizität aufzugeben? Wie sollen Kurden
       aus unterschiedlichen Ländern, mit unterschiedlichen Erfahrungen
       zusammenleben, wenn es nicht einmal zwei Kurden aus zwei benachbarten
       Provinzen können?
       
       Vielleicht lag der Traum eines geeinten Kurdistans in so weiter Ferne, dass
       man nie ernsthaft in Bedrängnis kam, sich Gedanken über die innere Struktur
       eines solchen Staates machen zu müssen. Die Autonome Region Kurdistan im
       Nordirak funktioniert zu großen Teilen deshalb, weil die Amerikaner dieses
       Vorhaben unterstützten. Es sind die Shoppingmalls und der Wohlstand, das
       Erdöl, der Übergang von der Landwirtschaft in den modernen Kapitalismus,
       der für Ruhe sorgt, nicht die Bruderliebe.
       
       ## Innere Feindschaft
       
       Das Einzige, was die Kurden eint, ist ihre Utopie Kurdistan. Doch wenn sie
       die erreicht haben, werden sie übereinander herfallen, so wie sie es taten,
       als noch nicht Staaten oder Islamisten über sie herfielen, sondern sie sich
       selbst zu Feinden erklärten.
       
       Es gibt nur eine Lösung für die Kurden. Sie müssen innerhalb ihrer
       Staatsgrenzen für Menschenrechte kämpfen. Sie müssen das nicht nur in
       Opposition zu ihrer Regierung tun, sondern vor allem in Opposition zu ihren
       eigenen kurdischen Leuten.
       
       Wenn sie das schaffen, dann sind sie einen langen und erfolgreichen Weg
       gegangen, der nicht nur ihnen, sondern vor allem dem Frieden in ihren
       Ländern dienen wird.
       
       28 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mely Kiyak
       
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