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       # taz.de -- Gesetzesvorschlag zur Sterbehilfe: Führende Mediziner kritisieren Politik
       
       > Den Vorschlag zur Neuregelung der Sterbehilfe haben Wissenschaftler
       > verfasst. Sie rebellieren damit gegen die „Unkenntnis“ deutscher
       > Politiker.
       
   IMG Bild: Nach dem neuen Vorschlag würden Ärzte mehr Rechtssicherheit bei der Sterbehilfe bekommen
       
       BERLIN taz | Jetzt liegt er vor: der erste fertig ausformulierte
       Gesetzesvorschlag für eine Neuregelung der Sterbehilfe in Deutschland. Er
       sieht vor, die derzeit straffreie Beihilfe zur Selbsttötung – also etwa das
       Überlassen eines tödlichen Medikaments, das der Patient sodann einnimmt –
       zu verbieten und „mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit
       Geldstrafe“ zu bestrafen.
       
       Hiervon ausgenommen werden sollen jedoch zwei nicht unrelevante Gruppen:
       Angehörige beziehungsweise dem Betroffenen „nahestehende Personen“ sowie
       diejenigen, die als einzige Arzneimittel verordnen dürfen: Ärzte. Faktisch
       setzt sich der Gesetzesvorschlag damit für eine liberale Handhabung ein –
       in der Praxis wären von der Strafbarkeit nur Sterbehilfevereine betroffen;
       Ärzte dagegen genössen fortan Rechtssicherheit. 
       
       Das eigentlich Erstaunliche an dem Gesetzesvorschlag ist: Verfasst haben
       ihn nicht etwa Bundestagsabgeordnete, sondern vier Wissenschaftler ohne
       politisches Mandat: der Mannheimer Medizinrechtler Jochen Taupitz, die
       Medizinethiker Urban Wiesing (Tübingen) und Ralf Jox (München) sowie der
       Palliativmediziner Gian Domenico Borasio aus Lausanne. Vier Experten
       unterschiedlicher Disziplinen also, die schon in vergangenen bioethischen
       Debatten, etwa um Patientenverfügung, Präimplantationsdiagnostik oder
       Gendiagnostik, durch ihr Plädoyer für Aufklärung und Mündigkeit auffielen.
       Ihr aktuelles Werk trägt den Titel „Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge
       zum Leben“.
       
       Ihr Vorschlag, schreiben die vier Autoren zu ihren Beweggründen, reagiere
       „auf eine Diskussionskultur in Deutschland, die in einer pluralistischen
       Gesellschaft zuweilen unangebracht ist“. Die Kritik der Wissenschaftler an
       Forderungen nach einem kompletten Verbot der Hilfe zur Selbsttötung, wie
       sie etwa prominente Unionspolitiker um den
       Bundesgesundheitsgesundheitsminister Hermann Gröhe oder den Fraktionschef
       Volker Kauder zuletzt vertraten, ist vernichtend: „Dogmatisch verteidigte
       weltanschauliche Positionen in Verbindung mit einer Unkenntnis der
       empirischen Daten sind als Herangehensweise nicht hilfreich“, schreiben
       sie. Und: Ärzten die Beihilfe zum Suizid untersagen zu wollen, sei
       unvereinbar sowohl mit der „Berufsausübungsfreiheit“ als auch mit dem
       „Grundrecht der Gewissensfreiheit des Arztes“.
       
       ## Palliativmedizin und Leidenslinderung
       
       Sodann widerlegen sie die von Sterbehilfegegnern häufig bemühte These, man
       müsse bloß die Palliativmedizin verbessern – also therapeutische Maßnahmen
       zur Verbesserung der Lebensqualität bei einer unheilbaren Krankheit, zum
       Beispiel Schmerztherapie –, und schon werde der Wunsch nach Selbsttötung
       obsolet: „Untersuchungen in Rechtssystemen, die die Suizidhilfe transparent
       regeln (wie die US-Bundesstaaten Oregon und Washington), zeigen
       übereinstimmend, dass Suizidhilfe zumeist von Menschen gewünscht wird, die
       an schweren, unheilbaren Erkrankungen mit einer begrenzten Lebenserwartung
       leiden.“ Für ihren Sterbewunsch ausschlaggebend seien aber nicht etwa
       unerträgliche Schmerzen. Sondern „die Wahrnehmung eines Verlustes von
       Würde, Lebenssinn und individueller Freiheit“.
       
       Ärzten, so die Autoren, komme in dieser Situation eine Rolle zu, die
       dubiose Sterbehilfevereine nicht erfüllen könnten: Sie müssten
       sicherstellen, dass ihr Patient seine Entscheidung freiwillig und bei
       klarem Verstand getroffen habe. Sie müssten überdies „lebensorientiert“
       über alternative Möglichkeiten der Leidenslinderung beraten. Die
       Legalisierung ärztlicher Suizidbeihilfe, schreiben Borasio, Jox, Taupitz
       und Wiesing unter Berufung auf Daten aus dem US-Staat Washington, wirke
       sich „suizidpräventiv“ aus: So hätten 65 Prozent der Anfragenden aus
       Washington nach der Beratung von ihrem Wunsch nach Selbsttötung wieder
       Abstand genommen. Und von den 35 Prozent, die ein Rezept für ein
       todbringendes Medikament erhalten hätten, habe ein Drittel es nicht
       eingelöst.
       
       26 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heike Haarhoff
       
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