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       # taz.de -- taz-Serie Inklusion (4): Schrecklich nette Leute
       
       > Emma besucht eine normale Grundschule. Alle finden das Mädchen im
       > Rollstuhl süß. Das ihr entgegengebrachte Mitleid findet sie schrecklich.
       
   IMG Bild: Alle kennen sie – wegen des Rollstuhls.
       
       Das Wasser ist lauwarm, aber Emma zittert. Zentimeter für Zentimeter
       rutscht ihr Fuß nach vorn, ihre Hand klammert sich an das Geländer. Ein
       rotweißes Seil teilt das Nichtschwimmerbecken in zwei Seiten. Auf der einen
       schiebt sich Emma über den Steinboden ins Wasser, von der anderen schauen
       ihr 32 Kinderaugen dabei zu. Emma guckt weg.
       
       Emma ist acht Jahre alt. Seit ihrer Geburt hat sie eine Spastik, kann ihre
       Beine und ihre linke Hand kaum bewegen. „Ich bin wie ein Kronleuchter, bei
       dem drei Lampen fehlen“, sagt sie. Sie hat einen Pferdeschwanz und eine
       rosa Haarspange, sie sieht „niedlich“ aus. Aber das darf man Emma nicht
       sagen. In der ersten Klasse saß neben ihr ein Mädchen, der tat sie leid,
       wegen des Rollstuhls. Einmal hat das Mädchen Emma eine Schatztruhe
       geschenkt, ihr über den Kopf gestreichelt und gesagt: „Du bist so süß.“
       Emma fand es schrecklich: „Ich bin doch keine Puppe!“
       
       Seit 2009 gilt die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, seitdem
       schreiben Journalisten häufig über Menschen wie Emma. Mit Worten, die sie
       noch nicht recht versteht: „Empowerment“, „Partizipation“, „Inklusion“.
       Begriffe, die das Verhältnis von Menschen mit Behinderung in der
       Gesellschaft beschreiben sollen. Vor allem im Unterricht: Nun hat jedes
       Kind formal das Recht eine Regelschule zu besuchen. In Emmas Fall heißt
       das: Sie besucht keine spezielle Förderschule sondern die
       Mathilde-von-Mevissen-Grundschule in Köln.
       
       Schwer ist Emmas Eltern diese Entscheidung nicht gefallen. Dabei
       unterrichtet Anna Becker, die Mutter, selbst an einer Förderschule. Doch
       für ihre Tochter wollte sie keine Sonderbehandlung. „Emma wird immer eine
       Rollstuhlfahrerin unter Nichtrollstuhlfahrern sein, warum sollte das in der
       Schule anders sein?“ sagt sie. Emmas Klassenraum ist im Erdgeschoss, sie
       hat viele Freunde, eine engagierte Lehrerin. Auf den ersten Blick scheint
       alles perfekt. Aber Emma fühlt sich häufig unwohl; nicht nur im
       Nichtschwimmerbecken.
       
       ## Jeder kennt die Kleine im Rollstuhl
       
       Achtzehn Minuten braucht Emma vom Schwimmbad zur Schule. Ihr Weg führt
       durch enge Straßen und über schmale Fußwege. Emmas Rollstuhl mit den rosa
       Blumen ist klein und wendig. Das muss er auch sein, denn nur so kann sie
       den Pollern ausweichen, die ihren Weg kreuzen. Ein Mann lächelt sie an. Das
       passiert Emma oft, fremde Erwachsene grüßen sie, Kinder winken ihr zu. In
       der ersten Klasse luden sie Mitschüler zum Geburtstag ein, mit denen sie
       noch nie gespielt hatte. Das macht Emma wütend. „Die kennen mich gar
       nicht“, sagt sie. Aber jeder weiß, wer sie ist. Wegen des Rollstuhls. Emma
       fühlt sich ausgeschlossen, weil alle so nett zu ihr sind.
       
       Politiker streiten seit Inkrafttreten der Konvention der Vereinten Nationen
       über Lehrpläne und abgesenkte Bordsteine. Aber mit Emmas Problem hat sich
       bisher kaum jemand beschäftigt. Dabei hat Emmas Gefühl viel damit zu tun,
       dass Wissenschaftler, Politiker und Journalisten heute statt „Integration“
       lieber „Inklusion“ sagen: Menschen mit Behinderung sollen nicht nur
       beteiligt werden, es soll selbstverständlich sein, dass sie da sind.
       Einfach so.
       
       Vierte Stunde, Kunst. Neben Emma steht ihr Schulranzen. Ihr fehlt ein
       Stift, um ihn zu suchen, lehnt sie sich nach vorn, verrenkt ihre Beine. Auf
       den Knien ihrer Jeanshose haften zwei Herzen, sie verziehen ihre Form.
       Emmas Rollstuhl wackelt. Ihre Lehrerin will hinlaufen, ihr helfen. Aber
       Emma mag das nicht. Wenn alle denken, sie brauche Hilfe, „dann wünsche ich
       mich in Grund und Boden“, sagt sie.
       
       Im Kindergarten, als Emma drei Jahre alt war, nahm sie es zum ersten mal
       wahr. Die Kinder schauten sie komisch an, fragten ob sie mit ihr laufen
       üben sollen. Nur Paulina nicht. Sie hatte sich neben Emma gesetzt, mit ihr
       ein Buch gelesen. Über Emmas Beine haben sie erst viele Monate später
       gesprochen. Heute ist Paulina Emmas beste Freundin.
       
       Auf dem Schulhof in einer Ecke hinter einem Eisentor ist es ruhig. Ihren
       „Kokon“ nennt Emma diesen Platz, hier versteckt sie sich, wenn sie bedrückt
       ist. In der zweiten Klasse war sie einmal so traurig, dass sie auf eine
       Förderschule wechseln wollte. An den Ort, wo alle Kinder eine Behinderung
       haben. Wo sie nicht anders ist, sondern normal. Sie hat sich dann doch
       dagegen entschieden. Wegen Paulina und „weil dort nur Kinder hingehen, die
       keine andere Schule haben will“, sagt Emma.
       
       ## Tipp: Nicht einfach streicheln
       
       Der Deutsche Knigge-Rat, ein Gremium, das Benimmregeln empfiehlt, hat zehn
       Tipps veröffentlicht, wie man mit Menschen mit Behinderung umgehen soll.
       Sie passen zu dem, was Emma sich wünscht: Nicht anstarren, nicht zu viel
       helfen, nicht einfach streicheln. Überlegt hat sich die Ratschläge vor
       allem Katja Lüke. Sie selbst sitzt auch im Rollstuhl und kennt Emmas
       Problem gut. „Keiner traut sich einen Rollstuhlfahrer doof zu finden, das
       ist auch Diskriminierung“, sagt sie. Nicht nur in den Schulen, sondern in
       den Köpfen müsse sich etwas ändern. „Je früher wir behinderte Menschen
       kennenlernen, desto lockerer werden wir“, sagt Lüke.
       
       Emma hat das Mädchen, das ihr in der ersten Klasse immer Geschenke gemacht
       hat, zu sich nach Hause eingeladen. „Damit sie sieht, dass ich in einem
       ganz normalen Bett schlafe und mit ganz normalen Spielsachen spiele.“ Die
       Geschenke wurden danach weniger, heute fühlt Emma sich nicht mehr unwohl
       neben ihr. Doch erst wenn keiner mehr starrt, während sie sich ins Wasser
       schiebt, wird sie die Linie überwinden, die sie von den anderen trennt.
       
       26 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Laura Cwiertnia
       
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