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       # taz.de -- taz-Serie Schillerkiez: Die Aussichten: weiterhin bewölkt
       
       > Den Volksentscheid zum Tempelhofer Feld feierte man im Schillerkiez als
       > Sieg gegen steigende Mieten. Jetzt macht sich Ernüchterung breit. Ein
       > Rundgang.
       
   IMG Bild: Schon 2010 ein Problem im Berliner Schillerkiez: Die Gentrifizierung, in deren Gefolge auch die Touristen mit ihren Rollkoffern kommen.
       
       Der Vorgarten des Schillerkiezes steht in schönster Blüte. Gerda Münnich
       sitzt auf dem „Dorfplatz“ des Gemeinschaftsgartens Allmende-Kontor und
       lässt ihren Blick über die Weite des Tempelhofer Feldes schweifen, als
       könne sie darin lesen. „Ich freue mich, aber die eigentliche Arbeit geht
       jetzt erst los“, sagt sie und spielt damit auf das Ergebnis des jüngsten
       Berliner Volksentscheids an.
       
       Am 25. Mai stimmten 64,3 Prozent der Berliner für einen Gesetzentwurf der
       Bürgerinitiative „100% Tempelhofer Feld“ und damit gegen eine Bebauung auf
       dem stillgelegten Flughafen. Vor allem die Bewohner des angrenzenden
       Schillerkiezes befürchteten im Falle einer Bebauung steigende Mieten und
       eine Verdrängung. Den Sieg der Bürgerinitiative feierten viele der Anwohner
       daher auch als Sieg für ihren Kiez.
       
       Doch wie sieht es jetzt, knapp drei Monate später, aus mit diesem Sieg?
       
       Auch sie habe damals gegen die Bebauung des Feldes gestimmt, erzählt Gerda
       Münnich. Die 74-Jährige ist eine der Initiatorin des Kontors und so etwas
       wie eine Gartenpionierin der ersten Stunde. 2011 entstanden auf einer
       Fläche von 5.000 Quadratmetern die ersten zehn Hochbeete. Drei Jahre später
       sind es 300 Beete, die von 900 Menschen beackert werden. Viele von ihnen
       kommen aus dem Schillerkiez.
       
       Im Falle einer Bebauung hätte der Allmende-Kontor seinen Standort an
       Neubauten abtreten müssen, sagt Münnich: „Die Menschen hätten nicht nur
       ihren Garten verloren, sondern auch einen sozialen Treffpunkt.“ Das hat der
       Volksentscheid erst mal verhindert. Vor ein paar Tagen kam dann ein Angebot
       der Grün Berlin GmbH, der Gesellschaft des Landes Berlin für
       Stadtentwicklungsstrategien: dass der Gemeinschaftsgarten bis Ende 2015
       bleiben könne. Fraglich ist allerdings, ob Grün Berlin zukünftig überhaupt
       noch der richtige Ansprechpartner ist.
       
       Ein Sieg für die Gärtner also? Gerda Münnich ist sich da noch nicht ganz
       sicher. Man müsse sehen, wie die Planung für das Feld sich entwickle, meint
       sie. Wer wird in der Zukunft verantwortlich sein für den Kontor und die
       anderen Stadtteilgärten? „Es geht jetzt vor allem darum, das Gesetz der
       Bürgerinitiative mit Inhalten zu füllen“, meint Münnich. Es müsse eine Form
       der Bürgerbeteiligung gefunden werden, die alle Interessen mit einbezieht.
       Das werde nicht ganz einfach werden, glaubt Münnich.
       
       Einer, der das Gesetz mit auf den Weg gebracht hat ist Gerhard W. Er sitzt
       in einem kleinen Straßencafé und nippt an seinem Kaffee. Schaut man die
       Straße runter, sieht man in der Ferne das satte Grün des Tempelhofer Feldes
       leuchten.
       
       Gerhard W. ist Mitglied der Initiative „100% Tempelhofer Feld“ und will
       seinen Nachnamen „lieber nicht in der Zeitung lesen“. Seit zehn Jahren
       wohnt er im Schillerkiez, engagiert sich in einer linken
       Stadtteilinitiative und beobachtet seit Jahren den Wandel im Kiez.
       
       Das Straßenbild hier habe sich verändert, meint er: „Die Älteren
       verschwinden. Läden machen auf, die sich nicht an die Anwohner richten, die
       Migranten wandern ab.“ Der Kiez verliere langsam sein Gesicht, sagt Gerhard
       W. Er ist sich sicher: Die Bebauung hätte diese Entwicklung noch befeuert.
       Die Mieten wären gestiegen, die Verdrängungsspirale hätte sich noch
       schneller gedreht. Mit dem Entscheid sei diese Gefahr fürs Erste gebannt,
       glaubt er. Ein Sieg für die Anwohner also? Gerhard W. zuckt mit den
       Schultern. Ob aber der Hype um den Kiez mit dem Bebauungsstopp tatsächlich
       abgeflaut sei, müsse man abwarten, meint er. Der nächste Schritt sei
       erstmal, die Bürgerinitiative zu reaktivieren und dafür zu sorgen, dass der
       Senat das Gesetz tatsächlich einhalte.
       
       Eine Straßenecke weiter: In einem hellen Rechteck aus Glas, das sich an die
       dunkle Fassade der Kirche am Herrfurthplatz lehnt, empfängt Beate Hauke.
       Das Café Selig ist so etwas wie das erweiterte Wohnzimmer des
       Schillerkiezes. Hauke ist hier ein bunter Hund. Seit den 1990er Jahren
       engagiert sich die 61-jährige Hausbesitzerin und Vermieterin im „Pro
       Schillerkiez“-Verein. Sie kümmert sich um verwahrloste Spielplätze, legt
       Gemeinschaftsbeete an und initiiert einen Wochenmarkt. Die Entwicklung des
       Flughafenkiezes vom eher ungeliebten Bezirk zu einem der beliebtesten
       Wohnviertel der Stadt hat sie hautnah miterlebt und „begrüßt“.
       
       Doch auch sie hat sich am 25. Mai gegen die Bebauung des Feldes
       ausgesprochen. Ebenso wie Gerhard W. glaubt auch Beate Hauke, dass im Falle
       einer Bebauung der Kiez und seine Bewohner leiden würden: „Höhere Mieten,
       Investoren, Verdrängung“. Viele Anwohner hätten ihr im Vorfeld von ihren
       Ängsten berichtet, erzählt Hauke. Für sie ist das Ergebnis des
       Volksentscheids daher vor allem ein Gewinn für die Bewohner des
       Schillerkiezes. „Seit dem Entscheid hat sich hier eine Art Erleichterung
       eingestellt“, sagt sie.
       
       Auch Eva Hübner ist erleichtert über das Ergebnis des Volksentscheids. Die
       63-Jährige ist ehrenamtliches Vorstandsmitglied des Vereins Schillerpalais,
       einem Projektraum für zeitgenössische Kunst. „Wäre das Feld bebaut worden,
       hätten wir einen einmaligen künstlerischen Freiraum verloren“, glaubt
       Hübner.
       
       Ist der Volksentscheid also ein Gewinn für die Kreativen? Eine Antwort
       darauf sei schwierig, sagt Hübner. Natürlich sei es schön, eine riesige
       „Spielwiese“ wie das Tempelhofer Feld um die Ecke zu wissen. Doch echte
       Freiräume gebe es im Kiez immer weniger. Daran ändere auch der
       Volksentscheid nichts. „Vor 12 Jahren waren wir einer der ersten
       Projekträume hier im Kiez“, erzählt Hübner. Die Mieten seien damals
       spottbillig gewesen. Hausbesitzer waren froh, wenn sie ihren Leerstand
       vermieten konnten. Es gab Freiraum für Experimente, für die Kunst.
       Mittlerweile seien alle Freiräume belegt, die Mieten gestiegen. Gerade für
       Künstler, die generell weniger Geld hätten, sei das schwierig, sagt sie.
       
       Drei Monate nach dem Volksentscheid scheint im Schillerkiez die Euphorie
       des Sieges verblasst. Hoffnung mischt sich mit Erleichterung und schlichter
       Ernüchterung. Ende September werden alle Tempelhof-Akteure zu einer
       Planungsrunde zusammenkommen. Dann wird über die weitere Zukunft des Feldes
       diskutiert – und damit auch über die des Schillerkiezes.
       
       21 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gesa Steeger
       
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