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       # taz.de -- Spielfilm aus Georgien: Ständige Bewegung
       
       > Ein Coming-of-Age-Drama samt präzisem Zeitbild: „Die langen hellen Tage“,
       > ein Film von Nana Ekvtimishvili und Simon Groß.
       
   IMG Bild: Heldinnen ihrer eigenen Geschichte: Eka (Lika Babluani) und Natia (Mariam Bokeria).
       
       „Tiflis 1992“ – das dürfte für die Mehrzahl der Europäer ein ebenso
       exotischer und weit entlegener Ort sein wie Eriwan, aus dem einst der
       fiktive Radiosender seine vertrackten Antworten gab. Etwa auf die Frage:
       „Steht der Kapitalismus am Abgrund?“ – „Im Prinzip ja, aber wir sind
       bereits einen Schritt weiter.“
       
       Das waren noch Zeiten, als man über solche Witze gelacht hat. Sie waren
       1992, in dem Jahr, in dem die Regisseure und Autoren Nana Ekvtimishvili und
       Simon Groß die Handlung ihres Films ansetzen, erst knapp vorbei. Von
       Eriwan, der Hauptstadt Armeniens, liegt Tiflis, die Hauptstadt Georgiens,
       keine 300 Kilometer entfernt. Das Lachen scheint den Leuten zu dem
       Zeitpunkt aber bereits gründlich vergangen zu sein, das wird in den ersten
       Szenen des Films klar. Im Jahr zuvor hatte Georgien seine Unabhängigkeit
       erklärt, was in einigen Regionen bürgerkriegsähnliche Zustände nach sich
       zog.
       
       Aber das sind Informationen aus dem Hintergrund. Die beiden 14 Jahre alten
       Mädchen im Zentrum von „Die langen hellen Tage“, die die Kamera auf ihrem
       Weg zur Schule begleitet und später in ihren jeweiligen Elternhäusern
       zeigt, sind mit unmittelbareren Problemen beschäftigt. Eka (Lika Babluani)
       lebt mit einer vor depressiver Erschöpfung fast verstummten Mutter und
       einer lauten, über die Stränge schlagenden Schwester zusammen. Die
       Abwesenheit des Vaters markiert eine versteckte Zigarrenschachtel mit
       Briefen und einer Restzigarette darin. Eka kramt sie von Zeit zu Zeit
       heimlich hervor, um daran zu riechen.
       
       Ihre beste Freundin Natia (Mariam Bokeria) wünscht sich dagegen manchmal,
       ihr Vater wäre tot. Der Alkoholiker macht es ihr schwer, das eigene Zuhause
       auszuhalten. Dort wird ständig gestritten, und wenn die Eltern mal Ruhe
       geben, sind es die nörgelnde Großmutter oder der kleine Bruder, die ihr
       Ärger machen.
       
       ## Aufstehen und Weglaufen
       
       Kaum etwas in diesem Film wird über Dialoge erzählt. Vielmehr wird alles
       aus Abläufen und Bewegungen heraus entwickelt: der Klassenraum kurz vor
       Unterrichtsbeginn mit seinen tumultartigen Zusammenballungen, in die die
       Lehrerin kaum mehr Ordnung bringen kann; die Versuche eines friedlichen
       Am-Tisch-Sitzens, wieder und wieder aufgebrochen durch abruptes Aufstehen
       und Weglaufen; die hysterische Stimmung in der Schlange vor dem
       Brotverkauf, wo sich die existenzielle Verzweiflung der Menschen von ihrer
       armseligen, feigen Seite zeigt.
       
       Und immer wieder der Gang zu und von der Schule, der für Eka und Natia –
       wie für Mädchen ihres Alters leider wohl typisch – gesäumt ist von
       Bedrohungen und Belästigungen. Da gibt es die Jungs, die sich mit
       adoleszenter Aggression vor Natia großtun, der diese Art der Aufmerksamkeit
       gar nicht mal so unrecht ist. Und es gibt die Jungs, die in gar nicht
       schmeichelhafter Weise Eka an immer der gleichen dunklen Stelle ihres
       Heimwegs auflauern und anpöbeln. Natia hat von einem ihrer Verehrer eine
       Pistole geschenkt bekommen und will Eka beibringen, wie sie ihre Belästiger
       ein für alle Mal in ihre Schranken weist.
       
       ## Energie sichtbar machen
       
       Es liegt an dieser Erzählweise der ständigen Bewegung, dass Eka und Natia
       dabei nie zu Opfern werden, sondern ganz und gar die Heldinnen dieser ihrer
       Geschichte bleiben. Seinen großen Teil dazu trägt der rumänische Kameramann
       Oleg Mutu bei, der mit seiner Arbeit Filme wie „4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“
       von Cristian Mungiu oder „Der Tod des Herrn Lazarescu“ von Cristi Puiu
       geprägt hat.
       
       Mutu hat die Gabe, den Figuren auf eine Weise zu folgen, die ihnen nicht
       nur über die Schulter blickt, sondern ihre Energie sichtbar macht, ihren
       Willen und ihre manchmal verquere Zielstrebigkeit. Sowenig die beiden
       Freundinnen zueinander sagen, wenn eine von ihnen etwas tut, das die andere
       missbilligt, so beredt bleibt das, was Mutus Kamera von ihren Blicken und
       Körperbewegungen einfängt.
       
       Mit „Die langen hellen Tage“ ist dem Regie-Autorenteam Ekvtimishili und
       Groß – die aktuell in Tiflis leben – nicht nur ein atmosphärisch stimmiges,
       postsowjetisches Zeitbild gelungen, sondern darüber hinaus ein
       „Coming-of-Age“-Drama, das an Präzision und Authentizität seinesgleichen
       sucht.
       
       21 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Schweizerhof
       
       ## TAGS
       
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