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       # taz.de -- Zuhause bleiben statt reisen: Guten Morgen, Limbach-Oberfrohna!
       
       > In der mobilen, fortschrittshungrigen und reiselustigen Generation gelten
       > die Bleibenden als träge, vernagelt, öde. Das stimmt so nicht.
       
   IMG Bild: In Limbach-Oberfrohna ist es doch am schönsten.
       
       Die Zahl der Möglichkeiten, mit abweichendem Verhalten noch irgendwen zu
       verblüffen, geht heute gegen null; denn eine weitgehend tolerante,
       abgeklärte Gesellschaft kennt ihre Meinungen und Handlungsoptionen. Man
       schmunzelt vielleicht über Unübliches, ist bestürzt oder empört. Aber es
       überrascht, überrascht zu sein.
       
       An einem Winterabend vor zwei Jahren hörte ich zum ersten Mal von einem
       nicht weiter auffälligen Gleichaltrigen, dass er nicht gern reisen würde.
       Die Worte standen dann da im Raum. Staunendes Schweigen in der Runde. Die
       Heimat – Hamburg, Deutschland, Mitteleuropa – fuhr er fort, sei vollkommen
       genügend.
       
       Die Ferne mit all ihren Ungewissheiten, deren gezielte Entdeckung das
       Reisen bedeute, locke ihn nicht, nicht im Geringsten. Schwüle, Stress und
       aufgeregte Menschenmassen: dafür müsse er nicht fünfzehn Stunden in engen
       chinesischen Flugzeugen sitzen. Bald wurde das Thema gewechselt, niemand
       wusste so recht, was dazu zu sagen wäre.
       
       Das Bekenntnis überrascht so, weil es unzeitgemäß ist, zu bleiben. In
       meiner flexiblen, mobilen, fortschrittshungrigen und reiselustigen
       Generation gelten die Bleibenden als träge, vernagelt, öde. Das gilt für
       Reiseverweigerer wie für Schulabsolventen, die in ihrem Heimatdorf, in
       ihrer mittelgroßen Heimatstadt bleiben wollen. Der Tenor: Bleiben ist
       schlecht für die Entwicklung. Bleibende mit ihren bleiernen Beinen sind
       unattraktive Gesprächsteilnehmer. Im Abseits steht, wer von der Schönheit
       des Wendlands spricht, wenn von Nicaragua die Rede ist.
       
       ## Unter grauem Himmel
       
       Man stellt sich den Bleibenden vor, wie er gelangweilt unter grauem Himmel
       am Fluss hockt, wo man schon die ganze Kindheit und Jugend mit ihm saß,
       oder, wahrscheinlicher noch, blass im Lichtschein der Spielkonsole, eine
       halbleere Fantaflasche auf dem staubbelegten Sofatisch. Und spätestens bei
       der Vorstellung ertappt man sich bei seinen kosmopolitischen
       Überlegenheitsgefühlen.
       
       So stellt man sich das Bleiben als mentalen und sozialen Stillstand vor,
       als mobile Impotenz. Als Gefahr: zu verkalken, zu resignieren, bräsig zu
       werden und sich der Langeweile zu ergeben.
       
       Doch neugierig auf die Welt kann auch sein, wer nicht in den Flieger
       steigt. „Es ist so süß zu bleiben“, bekennt etwa der junge Simon Tanner in
       Robert Walsers Roman „Geschwister Tanner“ und fragt: „Geht denn die Natur
       etwa ins Ausland? Wandern Bäume, um sich anderswo grünere Blätter
       anzuschaffen und dann heimzukommen und sich prahlend zu zeigen?“
       
       ## In der Region wandern
       
       Rastlos ist dieser Simon, mit Anfang zwanzig der Jüngste unter fünf
       Geschwistern. Seine Anstellungen in Buchhandlungen, Banken und bei
       wohlhabenden Damen pflegt er stets nach wenigen Tagen zu kündigen, wenn er
       sich in der Enge der industrialisierten Arbeitswelt nach Natur und
       Müßiggang sehnt. Deren Pracht schildert er in ausschweifender Euphorie.
       Auch er wandert, aber er bleibt in der nächsten Umgebung.
       
       In den Erzählungen der von Reisen Heimgekehrten liegt gerade da der Glanz,
       wo sie mit ihren Beschreibungen an Grenzen stoßen, wo sie Begegnungen oder
       Naturerlebnisse kaum in Worte zu kleiden vermögen. Oft genug hört man aber
       Allzubekanntes. Durch die globale Infrastruktur und weithin bezahlbare
       Langstreckenflüge kartografiert eine Generation die Welt, die von
       einschlägigen Reiseführern und von Reiseblogs vorgezeichnet ist.
       
       Man sammelt Eindrücke, die man von Bildern kennt, folklorisierte
       Stimmungen, die man gemeinhin erwartet, man entdeckt nichts eigentlich
       Neues: Ei, diese tollen Lichtreflexe auf dem Wasserbecken vorm Taj Mahal –
       wie auf den Fotos! Unsere sehr konkreten Vorstellungen von der Ferne können
       enttäuschend sein. Diejenigen, für die Reisen nicht nur ein Zustand,
       sondern eine Idee, ja eine Haltung ist, wollen deshalb jenseits der
       bekannten Bilder und Erzählungen herumwandern, um Unbekanntes aufzuspüren.
       
       ## Dort hängen Lampions
       
       Walsers Träumer Simon Tanner findet auch in der Nähe Fantastisches: „Die
       Blätter an den hohen Bäumen werden immer größer, in der Nacht lispeln sie,
       und am Tage schlafen sie unter dem heißen Sonnenschein.“
       
       Vielleicht liegt das Unbekannte nur eine halbe Stunde Fahrt entfernt.
       
       In der Provinz, wo man Menschen trifft, wie man sie kaum kennt, mit
       eigentümlichen Ritualen, fremden Gesichtern und Dialekten. Guten Morgen,
       Limbach-Oberfrohna! Wer sich der scheinbaren Ödnis des Kleinstadtsommers
       hinzugeben wagt, wie es Moritz von Uslar in Brandenburg für sein Buch
       „Deutschboden“ getan hat, weiß eventuell zu Herbstbeginn mehr Neues zu
       erzählen, als diejenigen, die drei Wochen in Südostasien gewesen sind.
       
       Für die Identität und Zukunft ihrer Heimat sind Bleibende – und
       Zurückkommende – unverzichtbar. Wer bleibt, glaubt an sein Zuhause, glaubt
       daran, etwas ändern oder erhalten zu können. Darauf weist auch der
       standhafte, entschlossene Klang des „Bleibens“ in der Demonstrationskultur
       hin: Da sind die Stuttgarter Bahnhofsgegner, die „oben bleiben“ wollten,
       statt den aufwändigen unterirdischen Neubau mitzufinanzieren; die
       Hausbesetzer, die oft bis zuletzt auf ihr „Drinbleiben“ pochten, ehe sie
       gingen oder gegangen wurden; oder die jugendlichen Leipziger Demonstranten
       im Herbst 1989, die mit ihrem „Wir bleiben hier“ überraschten. Ein
       Gegenentwurf zur Ausreisestimmung – sie hofften, in der maroden DDR durch
       ihren Widerstand etwas verändern und verbessern zu können.
       
       In den darbenden Städten des Ruhrpotts und des Ostens sind die Bleibenden
       heute gefordert, die Ruinen und die Langeweile mit Leben zu füllen. Ihren
       Städten die ramponierten Visagen zu hübschen; Oberhausen, Magdeburg,
       Duisburg oder Rostock auch für andere bleibenswert zu gestalten, wo die
       Politik hilflos ist.
       
       ## Wer bleibt, ist mutig
       
       Man kann sich diese Bleibenden am Fluss vorstellen, an dem man mit ihnen
       die ganze Kindheit und Jugend schon saß. Allerdings hocken sie dort nicht,
       sondern hängen Lampions und Scheinwerfer in die Bäume, zimmern Bühnen und
       Hütten. Und das ist auch eine Realität: der Verein „Kulturpauke“ zum
       Beispiel, gegründet von Magdeburger Idealisten, die seit Jahren magische
       Musikfestivals am Elbstrand organisieren. Diese Bleibenden stellen sich den
       Umständen, die den andern oft ein Grund sind, zu gehen, um nicht zu sagen:
       zu flüchten. Wer bleibt, ist mutig. Die Bedingungen für Selbsterkenntnis,
       Reifung, Menschwerdung sind für die Bleibenden wie für die Reisenden
       mindestens ebenbürtig.
       
       In der so anderen und doch bedeutungsschweren Welt des Fußballs verursachen
       die Flüchtigen tiefe Schmerzen. Spieler, die seit ihrer Jugend im Verein
       spielen und dann, trotz aller Liebesbekundungen, plötzlich gehen. Ihr
       Weggang wird verstanden als Aufgabe einer Heimat, an die man den rechten
       Glauben verloren hat.
       
       Spieler wie der Römer Francesco Totti oder Steven Gerrard in Liverpool
       werden deshalb verehrt, weil sie ihre Heimatvereine nie verlassen, nie im
       Stich gelassen haben. Sie sind Helden der Heimat.
       
       Bleiben heißt immer auch Verzicht. Es gibt unzählige Optionen, und aus all
       diesen wählt man genau diese mal warme, mal bittere, mal süße und mal
       beknackte. Diese vertraute, in der sich noch so viel Unbekanntes verbirgt.
       
       17 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christoph Farkas
       
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