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       # taz.de -- Wie schädlich sind Erdgasbohrungen?: Das Dorf der Krebskranken
       
       > Im niedersächsischen Söhlingen fürchten die Bewohner, dass
       > Erdgasförderung Krebs verursacht. Der Nachweis ist gar nicht so einfach.
       
   IMG Bild: Gasförderung der Firma Exxon. Rund um das Dorf Söhlingen gibt es an die hundert Förderstellen
       
       SÖHLINGEN taz | Ein Satz reicht aus, und das Leben von Anja Kremer
       entgleist. Vor ein paar Wochen sitzt sie bei ihrer Frauenärztin, etwas ist
       in ihrer linken Brust, etwas Hartes, sie hat es selbst ertastet. Die Ärztin
       untersucht Anja Kremer mit Ultraschall, und während sie konzentriert auf
       den Monitor blickt, hält die Ärztin inne und sagt ernst: „Da ist etwas.“
       Das war der Satz. Kremer ist 44 Jahre alt, stellvertretende Marktleiterin
       in einem Supermarkt, ein taffes Arbeitstier, sagt sie über sich und jetzt:
       Brustkrebs.
       
       Sie wirkt trotzdem unwirklich fröhlich, wie sie das in der Küche ihres
       Hauses erzählt, das in diesem Fall eine wichtige Rolle spielt: Es steht in
       Söhlingen, einem Ortsteil der Gemeinde Hemslingen, Landkreis Rotenburg,
       Niedersachsen. Das Dorf ist umringt von Erdgasförderstellen. Z 1, Z 11 oder
       Z 5 heißen sie, durchnummeriert verbergen sie sich in der Landschaft,
       eingezäunte Betonflächen mit Tanks, Rohren, Baracken, Pipelines knapp unter
       der Erdoberfläche. Niedersachsen ist die Erdgaskammer Deutschlands. Allein
       im Landkreis Rotenburg befinden sich über 100 dieser Förderstellen. „Wie
       kann es sein, dass in Söhlingen alles totgeschwiegen wird?“, fragt Kremer.
       
       Sie möchte wissen, ob sie vielleicht wegen der Erdgasförderung Krebs hat.
       Aus den Förderstelle dringt zu viel Quecksilber, das ist erwiesen, eine
       liegt nur einige hundert Meter von Kremers Haus entfernt. Wie viel
       Quecksilber es genau ist, weiß keiner, weil das Landesamt für Bergbau,
       Energie und Geologie jahrelang mit der Aufsicht des Betreibers Exxon Mobil
       geschlampt hat. Erst die Messungen von Umweltverbänden vor Ort zeigten die
       Verschmutzung an.
       
       Alles deutet auf einen Umweltskandal, aber einfach zu belegen ist dieser
       Zusammenhang nicht.
       
       ## Das Problem mit der Statistik
       
       In ihrer Küche beginnt Anja Kremer mit einer guten Nachricht. „Die Knochen
       sind nicht befallen“, berichtet sie, das schwarze Haar bereits auf
       Schulterlänge gekürzt, weil die Chemotherapie bald beginnt. Kremer will an
       diesem verregneten Sommertag in Meyers Landgasthof, dort wird die Frage
       „Quecksilber durch Gasbohren?“ diskutiert, moderiert vom Nordwestradio. Auf
       der kurzen Autofahrt ziehen Häuser aus roten Klinkersteinen und kleine Höfe
       vorbei, Weiher und Wälder. Kremer und ihre Freundin Silke Döbel,
       Initiatorin einer lokalen Bürgerinitiative, können genau aufzählen, welches
       Familienmitglied in welchen Häusern an welchem Krebs erkrankt ist.
       
       Mittlerweile haben sich Experten des epidemiologischen Krebsregisters
       Niedersachsen der Fälle angenommen. Sie untersuchen auf Antrag des
       Landrats, ob es im Landkreis Rotenburg zwischen 2003 und 2012 mehr
       Krebserkrankungen als in vergleichbaren Gebieten gab. In Deutschland
       erkranken jährlich rund 500.000 Menschen neu an Krebs. In einem
       1.400-Seelen-Dorf wie Söhlingen müssten statistisch binnen zehn Jahren rund
       90 Menschen Krebs bekommen. Wie viele es tatsächlich sind, weiß noch
       niemand. Die vielen Krebsfälle in Söhlingen, sie könnten also ebenso eine
       eingebildete Epidemie sein, weil auf einmal alle darüber reden.
       
       In Söhlingen ist eines jedoch definitiv anders: Seit Jahren kommt es zu
       Zwischenfällen in der Erdgasförderung. Ein Grund ist das sogenannte
       Lagerstättenwasser. Es dringt mit dem Erdgas Tausende Meter aus dem
       Untergrund mit nach oben, samt den dort natürlich vorkommenden Stoffen wie
       Quecksilber oder Benzol, die in zu hohen Konzentrationen Krebs verursachen
       können. Exxon Mobile presst es wieder in den Untergrund zurück, allerdings
       nicht an der Stelle, wo es nach oben kam. Meist fließt das
       Lagerstättenwasser erst kilometerweit durch Pipelines. Bei einer Leitung
       wurde in Söhlingen erstmals im Jahr 2007 eine zu hohe Konzentration von
       Umweltgiften gemessen.
       
       ## Lasche Aufsicht generell
       
       Auf der Suche nach den Ursachen derartiger Fälle zeigt sich vor allem eins:
       In Deutschland werden Erdöl und Erdgas vor sich hin gefördert. Aufsicht und
       Kontrollen sind erschreckend schwach. Die Gesetze sind so gestrickt, dass
       die Umweltbelastung über Jahre hinweg systematisch übersehen werden kann.
       
       Das Bundesamt für Geowissenschaft schreibt jetzt dazu auf taz-Anfrage:
       „Tragen nicht genehmigungsbedürftige Anlagen zum Entstehen schädlicher
       Umwelteinwirkungen in relevanter Weise bei, ist zu prüfen, ob die nach dem
       Stand der Technik gegebenen Möglichkeiten zu ihrer Vermeidung ausgeschöpft
       sind.“ Übersetzt heißt das: Erst wenn ein Umweltskandal nachgewiesen ist,
       wird über Maßnahmen nachgedacht, wie er verhindert werden kann. Es ist die
       glatte Umkehr des Vorsorgeprinzips.
       
       Doch es geht noch weiter: Das Bergbauamt in Niedersachsen hat
       jahrzehntelang nicht ein einziges Mal gemessen, ob die Förderstellen die
       Umwelt mit Schadstoffen belasten. Das gibt das Amt offen zu. Stattdessen
       verließ sich die Behörde blind auf Exxon Mobil.
       
       ## Der Konzern schätzte nur
       
       Und was machte der Konzern? Er ließ zwar in den 90er Jahren
       Aktivkohlefilter einbauen, die Quecksilber aus den Abgasen filtern, wenn
       Gas abgefackelt wird. Doch andere Schadstoffe entfernt die Anlage nur „als
       Begleiteffekt“. Auf Nachfrage kristallisiert sich heraus: Auch Exxon misst
       nicht, was aus den Schornsteinen kommt. Der Konzern schätzt nur, seit
       Jahrzehnten. Anhand von „Standardfaktoren“.
       
       Auch bei der Frage, ob das kontaminierte Lagerwasser aus den Förderplätzen
       in die Umwelt gelangt, beschränkte sich Exxon Mobil auf Schätzungen. „Eine
       regelmäßige Entnahme von Bodenproben findet nicht statt“, schreibt der
       Konzern auf Anfrage der taz – das änderte sich erst, als Umweltverbände die
       Belastungen angeprangert haben. Erst dann fing auch das Bergamt an, selbst
       Proben zu nehmen.
       
       Das Vertrauen von Silke Döbel und Anja Kremer in Exxon Mobil und die
       Aufsichtsbehörden ist deswegen zerstört. Das wird an dem Abend in Meyers
       Landgasthof deutlich. Ein Pressesprecher und ein Chemiker von Exxon Mobil
       sind gekommen, eine grüne Landespolitikerin, der Vorsitzende einer
       Bürgerinitiative, ein Vertreter des Bergamtes.
       
       ## „Eine Gesundheitsschädigung ist uns nicht bekannt“
       
       Die Vertreter von Exxon Mobil müssen einiges einstecken. „Sie machen hier
       Milliardengewinne auf Kosten der Söhlinger Bürger. Ich würde sie ins
       Bohrloch stecken, wenn ich könnte“, schmettert ihnen der Sprecher der
       Bürgerinitiative Umweltschutz Uelzen ins Gesicht. Es geht um die für Anja
       Kremer so wichtige Frage: Sind die gemessenen Werte gesundheitsschädlich?
       „Eine Gesundheitsschädigung ist uns nicht bekannt“, sagt der
       Exxon-Chemiker. „Mein Puls schlägt jetzt schon höher“, sagt Anja Kremer
       verärgert. Sie hat sich ein Kissen unter den Arm geklemmt, damit die
       frischen Narben der Brustoperation entlastet werden.
       
       „Wenn wir etwas über Gesundheitsgefahren wüssten, würden wir
       selbstverständlich sofort etwas unternehmen“, ergänzt der Chemiker. An
       Kremers Tisch ruft Silke Döbel: „Das ist bereits zu spät.“ Der Chemiker:
       „Dass wir wissentlich die Gesundheit der Bürger gefährden, kann man nicht
       unterstellen.“
       
       ## Nabu wird aktiv
       
       Exxon Mobil ist besonders unter Druck, seit im Mai 2014 der
       Naturschutzverband Nabu Proben in Gräben und auf Äckern an mehreren
       Förderstellen rund um Söhlingen gezogen hat: Es gibt zu viel Quecksilber.
       Das Bergbauamt bestätigte die Funde. Die Werte liegen zwischen 0,09 und 120
       Milligramm pro Kilogramm Erdreich. Ab einem Milligramm dürfen eigentlich
       keine Tiere mehr auf dem Acker weiden. Auf Kinderspielplätzen sind 10
       Milligramm erlaubt. Die Grenzwerte sind überschritten. Allerdings nur an
       einigen Stellen. Es gibt keinen Beweis dafür, dass Söhlingen seit Jahren
       systematisch belastet ist.
       
       Die Geschichte wird noch komplizierter, ruft man Hermann Kruse an,
       Toxikologe an der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Er ist einer von
       zwei unabhängigen Gutachtern, die im Jahr 2012 eine Söhlinger Familie
       untersuchten. Ihr Haus liegt mitten im Söhlinger Erdgasfeld, Rohre mit
       Lagerwasser führen in nur 300 Meter Entfernung daran vorbei. Immer wieder
       liegen unangenehme Gerüche in der Luft, sagt die Familie. Nachdem 2012 ein
       Leck in einem der Rohre auftritt, sind die Grenzwerte von Quecksilber und
       Benzol überschritten. Kruse lässt direkt vor Ort Blutproben von Vater,
       Mutter und Tochter nehmen und gekühlt ins Labor bringen.
       
       Die Schadstoffwerte liegen leicht über dem Durchschnitt, sind aber
       definitiv nicht gesundheitsgefährdend. „Die Menschen in Söhlingen sind auf
       keinen Fall hoch belastet“, sagt Kruse. „Nur in dem Fall würde es bei der
       kleinen Einwohnerzahl überhaupt zu einer statistisch signifikanten höheren
       Krebsrate kommen.“ Das Problem ist in Fachkreisen bekannt: Bei kleinen
       Fallzahlen lassen sich die Faktoren, die zu den Erkrankungen führen, kaum
       isolieren. Der Toxikologe hält trotzdem auch eine leicht erhöhte Belastung
       für nicht akzeptabel. Denn Quecksilber lagert sich über Jahre im Gehirn ab,
       Benzol im Rückenmark. Mit Bluttests lässt sich das leider nicht
       feststellen. „Wer lässt sich schon Proben aus seinem Gehirn nehmen?“, fragt
       Kruse.
       
       ## Auswertung im September
       
       Mit den methodischen Problemen konfrontiert, schreibt das
       Landesgesundheitsamt, dass verschiedene Aspekte berücksichtigt würden.
       „Grundsätzlich ist es niemals auszuschließen, dass erhöhte
       Schadstoffbelastungen zu einer höheren Krebsrate vor Ort führen können“,
       heißt es. Im September werden die Ergebnisse veröffentlicht. Sollte dann
       eine „überzufällige regionale Häufung“ von Krebsfällen gefunden werden,
       dann wird es weitere toxikologische Untersuchungen geben. Den Söhlingern
       bleibt bis dahin nichts anderes übrig, als den Beschwichtigungen von Exxon
       zu glauben.
       
       Auch die Mitarbeiter des Konzerns in der Region sind entsetzt, aber aus
       anderen Gründen: Am Rande der Diskussion im Landgasthof erzählt einer, der
       seit 20 Jahren die Anlagen wartet, seine Kinder würden in der Schule
       gemobbt. „Wir gelten auf einmal überall als die Vergifter.“ Ein Kollege
       schnappt sich empört das Mikrofon: „Ich arbeite seit 38 Jahren für Exxon
       Mobil und werde regelmäßig auf Quecksilber geprüft“, sagt er, nie habe es
       Probleme gegeben. Einer aus der Ecke der Bürgerinitiative ruft, da habe er
       wohl Glück gehabt, und der Exxon-Mann kontert: „Hab ich etwa Haarausfall?“
       
       Anja Kremer hört sich das alles mit dem Kissen unter ihrem Arm an, kommt
       nicht zu Wort und sagt leise: „Ich finde das alles schockierend.“
       
       18 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ingo Arzt
       
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