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       # taz.de -- Dave Eggers neuer Roman „Circle“: Des Internetkritikers neue Kleider
       
       > Groß angekündigt war eine brillante Analyse der Kehrseiten der
       > digitalisierten Welt. Herausgekommen ist ein flacher Roman über simple
       > Menschen.
       
   IMG Bild: Simple Reiz-Reaktions-Maschinen. Sie sind glücklich, wenn ihnen jemand ein Like gibt.
       
       Wer die taz-Redaktion durchstreift, kann an manchen Wänden die zweit- und
       drittplatzierten Entwürfe für das Gebäude sehen, das die [1][taz
       bekanntlich bald bauen wird]. Junge, lässig angezogene Menschen sieht man
       auf diesen Entwürfen, sie schauen auf Bildschirme, bedienen Tablets, halten
       Smartphones ans Ohr, man sieht sie einzeln, in Gruppen, auf Sofas lümmeln
       und an Schreibtischen arbeiten.
       
       Toll sieht das aus, aber ein bisschen auch nach Starbucks. So wie sich
       Architekten halt vorstellen, wie sich moderne Kommunikationsmenschen Leben
       und Arbeit vorstellen.
       
       Es sind solche Bilder, bei denen der Schriftsteller Dave Eggers den Leser
       in seinem neuen Roman abholen möchte. „Circle“ setzt mit ihnen ein. Das
       Buch beschreibt den Schritt eines fiktiven großen kalifornischen
       Onlinedienstes von der marktbeherrschenden Stellung zum Monopol. Und
       zunächst einmal begleitet man die ersten Arbeitstage der Zentralfigur Mae
       Holland bei diesem Arbeitgeber.
       
       Dave Eggers gibt sich viel Mühe zu vermitteln, wie schön das alles ist.
       Flache Hierarchien, gläserne Wände, hippe Gebäude, eine ambitionierte
       Kantine und – in den USA ist das echt ein Punkt – eine gute
       Krankenversicherung. Das liest sich im Roman zunächst genauso, wie die
       Entwürfe der Architekten auf den taz-Fluren aussehen. Doch dann kommt in
       dem Roman peu à peu das dicke Ende. Immer noch eine Kommunikationsaufgabe
       mehr wird Mae zugeteilt. Immer noch ein bisschen weniger Privatsphäre soll
       sie sich selbst zugestehen. Bis sie außerhalb ihrer Arbeit gar nicht mehr
       richtig existiert.
       
       Man konnte sehr gespannt sein auf diesen Roman. Dave Eggers, sowieso eine
       quirlige Gestalt in der US-amerikanischen Literaturszene, beschrieb in
       „Weit gegangen“ die anstrengende, teilweise schreckliche Flucht einer
       Gruppe von Kindern durch den Sudan ins rettende Äthiopien. Im
       Tatsachenbericht „Zeitoun“ schilderte er, was sich in New Orleans nach dem
       Wirbelsturm „Katrina“ abspielte.
       
       ## Tiefpunkt Sexszene
       
       Engagierte Gegenwartsbegleitung, intelligente Verknüpfungen von
       Tatsachenschilderungen und Literarisierungen – dafür steht dieser Autor.
       Und die mediale Bugwelle, die „Circle“ zuletzt vor sich hergeschoben hat,
       hat zusätzlich neugierig gemacht. Von einem „1984“ des Internetzeitalters
       ist die Rede.
       
       Beim Lesen hat man allerdings schnell mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Denn
       nicht nur sind die Figuren zu flach. Der Roman ist auch unglaublich
       schlecht und klischeehaft geschrieben. Da gibt es schlichte Bilder zuhauf
       wie „ihr Magen schlug einen Purzelbaum“ oder unanschauliche Behauptungen
       wie „Mae genoss es, spürte jeden Tag die Zuneigung von Millionen durch sich
       hindurchströmen“. Und der zentrale Satz, der von der Handlung im Grunde nur
       verifiziert wird, wird literarisch unelegant einfach ausgesprochen. Ihr
       Exfreund sagt ihn zu Mae, und im Grunde genommen ist das alles, was man
       sich aus dem Roman merken muss: „Ich meine, wie alles, was ihr so pusht,
       klingt es perfekt, progressiv, aber es bringt auch mehr Kontrolle mit sich,
       mehr zentrale Überwachung von allem, was wir machen.“ Stimmt. Nur dass man
       es auch schon vorher wusste.
       
       Es geht hier keineswegs darum, die überzeitliche Gültigkeit des
       psychologischen Realismus zu behaupten. Aber mehr Mühe bei seinen
       Figurenkonstruktionen hätte sich Dave Eggers geben müssen. Zumal bei einer
       Dramaturgie, die so funktioniert wie bei dem Frosch, der erst im warmem
       Wasser sitzt und dann zu spät realisiert, dass die Temperatur allmählich
       immer weiter erhöht wird, bis er gekocht ist. Wenn man sich mit dem Frosch,
       hier also Mae, von vornherein nicht identifizieren kann, klappt die ganze
       Dramaturgie nicht.
       
       Und die Szene, die Dave Eggers präsentiert, um einen intensiven sexuellen
       Akt zu beschreiben, stellt sowieso einen historischen Tiefpunkt dar. „
       ’Mae‘, sagte er, als […] sie ihn so tief aufnahm, dass sie seine
       geschwollene Spitze irgendwo nah ihrem Herzen spüren konnte.“ So geht das
       doch nicht.
       
       ## Schlichte Welt
       
       Stellt sich die Frage, ob man bei „Circle“ Abstriche an literarischer
       Qualität in Kauf nehmen kann, um dafür durch eine profunde Analyse der
       gesellschaftlichen Gefahren der digitalen Welt entschädigt zu werden.
       Antwort: Nein, so geht das nicht auf. In Wirklichkeit sind literarische und
       analytische Qualität nicht zu trennen.
       
       In so einer schlichten Romanwelt, wie Dave Eggers sie konstruiert, ist es
       tatsächlich möglich, dass „alle“ den Präsentationen der Konzernleitung
       zujubeln, dass das politische System sich innerhalb von Wochen von so einem
       Konzern aushebeln lässt und dass die Masterpläne der Manager – natürlich
       steckt bei „Circle“ ein machtgieriger Manager hinter den Weltmachtplänen,
       der den brillanten, aber naiven Internet-Gründertyp mit Kapuzenpulli
       kaltgestellt hat – tatsächlich aufgehen.
       
       Aber wenn man sie gegen die wirkliche Welt da draußen hält, erklärt diese
       Romanwelt so wenig und wirkt so arm. Überhaupt nicht vorkommen in ihr
       könnte zum Beispiel, was mit der deutschen Piratenpartei passiert ist, die
       mit ihren Ideen einer Liquid Democracy manches verwirklichen wollte, was in
       diesem Roman beschrieben wird. Dass aber Echtzeitabstimmungen und ständiges
       Vernetztsein auch immer gute Plattformen für Wichtigtuer und Spinner
       darstellen, dass auf diese Weise ein tragfähiger gemeinsamer Wille oft gar
       nicht herzustellen ist, das kommt gar nicht vor. In „Circle“ fehlen zum
       Beispiel ernst zu nehmende Gegenspieler. Die, die es gibt, stellen sich mit
       ihrem Widerstand tollpatschig an. Und was auch nicht vorkommt, sind die
       vielfältigen alltäglichen Erfahrungen, die man mit sozialen Medien,
       Computern und Mobiltelefonen derzeit real macht.
       
       Dave Eggers erzählt von diesem Bereich als große, weltumfassende
       Verhängnisgeschichte. Interessant sind doch aber die vielen kleinen
       Geschichten: das, was einen wirklich so antriggert an den Gadgets von Apple
       und Co; die Verschiebungen in der Selbstwahrnehmung, die sich mit Selfies
       ergeben; der alltägliche Kleinkampf zwischen dem Wunsch nach Erreichbarkeit
       und den kleinen Tricks, mit denen man sich der Erreichbarkeit wieder
       entzieht. Für Ambivalenzen ist in der schlichten Romanwelt von „Circle“
       kein Platz.
       
       ## Ein flacher Menschentypus
       
       Vielleicht wird mancher gegen diese Besprechung den Einwand erheben, dass
       sie naiv sei, weil genau dieser flache, nur im ständigen Vernetztsein sich
       selbst spürende Menschentypus, den Mae Holland schließlich im Buch
       verkörpert, ja von den sozialen Medien produziert würde. Aber ich weiß
       nicht. Bei Dave Eggers sind die Menschen simple Reiz-Reaktions-Maschinen.
       Sie sind glücklich, wenn ihnen jemand ein Like gibt. Sie haben, bevor er
       sie ereilt, noch nie etwas von einem Burn-out gehört. Sie haben nie eigene
       Interessen, quatschen nicht durcheinander, spotten nicht. Und sie
       funktionieren immer ganz genau so, wie es dem Autor gerade in den Kram
       passt. Wer ist hier naiv?
       
       Manches funktionierte bei den hymnischen Vorbesprechungen von „Circle“
       offenbar so wie bei dem Märchen um des Kaisers neue Kleider. Man wünscht
       sich so unbedingt einen tiefgreifenden analytischen Roman über die Gefahren
       der digitalen Welt – er wäre auch tatsächlich wünschenswert –, dass man gar
       nicht sehen kann, dass dieser Roman jedenfalls es nicht ist.
       
       Vielleicht ist alles aber auch nur eine Frage der Einordnung. „Circle“
       bietet gutes Material, um mit Kids darüber zu diskutieren, dass sie nicht
       alle Werbesprüche glauben sollen. Es ist auch ein okayes Buch, um sich
       selbst zu bestätigen, dass eine ausgewogene Work-Life-Balance wichtig ist.
       Aber eine zeitgemäße Analyse des digitalen Zeitalters ist es nicht. Und
       langweilig ist es auch.
       
       10 Aug 2014
       
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