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       # taz.de -- Die Sommerreise von Sigmar Gabriel: Minister auf Wirtschaftskurs
       
       > Die SPD will sich wieder mehr um den Mittelstand und Wachstum kümmern.
       > Mit dieser Mission tourt ihr Parteichef durch den Osten.
       
   IMG Bild: Im Land der gelben Helme: Gabriel bei der VNG Verbundnetz Gas AG in Teutschenthal, Sachsen-Anhalt.
       
       DRESDEN/LEIPZIG taz | Sigmar Gabriels Leibwächterin richtet sich auf. Der
       Vizekanzler hat nach dem Besuch der Leipziger Strombörse gerade den 23.
       Stock des City-Hochhauses verlassen, als vor dem Gebäude ein Mittdreißiger
       auf ihn zuläuft. Sandalen, Vollbart, Hemd mit roten Blumenmuster. Nach
       Büroangestellter sieht der Typ nicht aus. Eher könnte er im
       Personenschützerseminar des BKA als Beispiel für die Kategorie
       „gefährlicher Kauz“ durchgehen. Und jetzt wühlt er auch noch in der
       Hosentasche herum.
       
       Fehlalarm. Ein Autogrammjäger. „Kommen Sie mal mit“, sagt der Vizekanzler,
       als ihm der Mann Zettel und Stift hinhält. „Im Wagen habe ich Fotos von
       mir.“ Als sein Tross kurz darauf weiterfährt, hinterlässt er einen
       beglückten Sachsen mit Autogrammkarte. „Super, Tschüssi, Wiedersehen!“,
       ruft der Gabriel-Fan zum Abschied.
       
       Angst muss der SPD-Chef dieser Tage vor niemandem haben, weder in Leipzig
       noch in Berlin. Ausnahmsweise: Der Bundestag macht Sommerpause, und Angela
       Merkel hat sich für zwei Wochen abgemeldet. Nur Gabriel, so scheint es, ist
       daheimgeblieben und nutzt die Ruhe, um ungestört einen Kurswechsel zu
       inszenieren.
       
       In Umfragen stagnierten die Sozialdemokraten in den letzten Wochen knapp
       über zwanzig Prozent, und um nicht ewig Juniorpartner der Union zu bleiben,
       hat Gabriel in der vergangenen Woche eine neue Losung ausgegeben. „Die SPD
       darf sich nicht damit zufriedengeben, für die soziale Seite der
       Gesellschaft zuständig zu sein“, sagte er. Wer den Kanzler stellen möchte,
       muss auch die Bosse und den Mittelstand überzeugen. Wohl deshalb hat sich
       Gabriel nach der Bundestagswahl das Wirtschaftsministerium ausgesucht. Weil
       sein neues Amt aber bislang nicht auf die Umfragewerte ausstrahlt, soll
       seine Partei mit aller Kraft nun die Botschaft verkünden: Wir haben nicht
       nur den Mindestlohn, wir kümmern uns auch um Wachstum.
       
       Die ganze Woche fährt er schon durch Ostdeutschland, besichtigt Betriebe,
       schüttelt Hände. Es ist seine erste große PR-Tour als Wirtschaftsminister
       und dass sie ihn durch die drei Ostländer führt, in denen Wahlen anstehen,
       ist sicher kein Zufall.
       
       Wie der Parteichef setzt auch die sächsische SPD auf Wachstumspolitik, um
       bis zum 31. August noch ein paar Prozentpunkte herauszuholen. Gabriel gibt
       den Wahlkampfhelfer: Wirtschaftsempfang der Partei auf einem Dresdner
       Raddampfer, der Minister lässt die geschmorten Ochsenbäckchen stehen und
       klappert auf der Fahrt zur Waldschlösschenbrücke die Gäste ab. Weiter so,
       bittet ihn der Abteilungsleiter eines Chipherstellers. Sein Betrieb
       verbraucht in der Produktion viel Strom. Auf die EEG-Umlage, aus der die
       Energiewende mitfinanziert wird, erhält er deshalb Rabatte.
       
       Es war Gabriel, der die Ermäßigung für Industrieunternehmen im Frühjahr
       verlängerte – auf Kosten der Privatverbraucher. Weiter so, bittet der
       Abteilungsleiter also, auch bei der nächsten Novelle des
       Erneuerbare-Energien-Gesetz. Sein Unternehmen brauche Planungssicherheit,
       sonst werde die Produktion aus Dresden vielleicht nach Malaysia abgezogen.
       
       „Natürlich muss eine Volkspartei SPD auch die Wirtschaft einbinden“, sagt
       der Göttinger Parteienforscher Matthias Micus. Die Partei habe immer dann
       Wahlen gewonnen, wenn sie nicht ausschließlich als Betriebsrat der Nation,
       sondern obendrein als wirtschaftskompetent galt. Unter Willy Brandt zum
       Beispiel, später unter Gerhard Schröder, dem Genossen der Bossen. In den
       Jahren nach Helmut Schmidt dagegen, als sich die Sozialdemokraten auf
       soziale Forderungen konzentrierten, waren sie gegen Helmut Kohl ohne
       Chance.
       
       Trotzdem müsse die SPD nun aufpassen, sagt Parteienforscher Micus.
       Steuersenkungen und Industrierabatte seien keine explizit
       sozialdemokratischen Wachstumskonzepte. „Die Partei muss erkennbar bleiben,
       das originär Sozialdemokratische muss deutlich werden“, sagt er. Sonst
       könne die SPD nicht zulegen – Wirtschaftskurs hin oder her.
       
       Aus der Partei selbst ist kaum Widerstand zu vernehmen. Ein paar kritische
       Statements der Parteilinken, die klangen aber eher pflichtbewusst. Weil
       sich der linke Flügel mit internen Konflikten zuletzt geschwächt hat? Weil
       die Bundestagsbüros Anfang August verwaist sind?
       
       In Dresden trifft Gabriel auch eine Gruppe aus Jusos und Falken. Kein
       sonderlich wirtschaftsfreundliches Milieu. Gabriels neuer Kurs: kein Thema.
       Die Jugendlichen sitzen mit dem Vizekanzler im Stuhlkreis und erzählen von
       den Rechten in der Region, von Morddrohungen und von Thor-Steinar-Kleidung
       in den Schulen. Gabriel hört genau zu, fragt nach. Dann packt er eine
       Anekdote aus: 1976 war er selbst bei den Falken. Im Wald bei Goslar
       campierte damals die Wiking-Jugend. Gabriels Gruppe protestierte dagegen.
       Und wurde dafür von den Neonazi durchs Gestrüpp gejagt.
       
       „Opa erzählt vom Krieg“, raunt einer im Stuhlkreis, als der Parteichef
       gegangen ist. So gut kommt Gabriel bei den Jusos normalerweise nicht weg.
       Er muss dieser Tage wirklich vor niemandem Angst haben.
       
       Nur in Sachsen-Anhalt beschwert sich ein Geschäftsführer beim
       Wirtschaftsminister. Sein Unternehmen möchte in Zukunft Strom in
       Wasserstoff umwandeln. Wenn es stürmt und die Windräder mehr Energie
       erzeugen, als die Netze vertragen, könnte der Strom so gespeichert werden.
       Vielleicht eine zentrale Technologie für die Energiewende. Dennoch bekommt
       das Unternehmen keinen Rabatt auf die Ökostromumlage.
       
       „Da müssten die politischen Rahmenbedingungen vielleicht noch angepasst
       werden“, sagt der Geschäftsführer. „Da reihen sie sich in die Schlange der
       vielen ein, die keine Umlage zahlen wollen“, brummt Gabriel. Thema
       erledigt. Und trotzdem ein Vorgeschmack: auf die Zeit nach der Sommerpause,
       wenn der Vizekanzler mit Widerworten rechnen muss.
       
       9 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Schulze
       
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