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       # taz.de -- Verstorbener Filmkünstler Harun Farocki: „Es sollten andere weitermachen“
       
       > Antje Ehmann und Harun Farocki haben weltweit Filme zum Thema Arbeit
       > gesammelt. Ein Gespräch über Globalisierung, Überraschungen und Ratten.
       
   IMG Bild: Der verstorbene Farocki vor einer früheren Ausstellung.
       
       Im Januar kamen Antje Ehmann und Harun Farocki in die taz, für ein
       Interview über ihr Projekt „Eine Einstellung zur Arbeit“, das das Paar seit
       2011 beschäftigte. Es war ein Gespräch in zwei Teilen. Nach einer halben
       Stunde wurde das Zimmer, in das wir uns zurückgezogen hatten, um ungestört
       zu sein, in Beschlag genommen. Wir zogen in den Redaktionsraum um. Eine
       Pause entstand. Antje Ehmann rauchte vor der Tür. Für das Interview gab es
       keinen drängenden, journalistisch zwingenden Anlass. Im August sei in Essen
       eine Ausstellung des Projekts geplant, sagte Farocki. „Oder du wartest mit
       der Veröffentlichung bis 2015, wenn es eine große Ausstellung im Haus der
       Kulturen der Welt in Berlin geben wird.“ Es war ein Gespräch auf Vorrat, im
       selbstverständlichen Vertrauen, dass es diese Zukunft geben wird. Am 30.
       Juli ist Harun Farocki, 70 Jahre alt, gestorben. 
       
       taz: Herr Farocki, Frau Ehmann, „Eine Einstellung zur Arbeit“ enthält kurze
       Filme über Arbeit, von Rio bis Hanoi, allesamt ohne Schnitt. Welche Rolle
       spielen Sie bei diesem Projekt – nicht Autor, sondern Sammler? 
       
       Harun Farocki: Wir sind Produzenten. Wir veranstalten Workshops und
       schlagen Ideen vor – manchmal mit, manchmal ohne, manchmal mit
       gegenteiliger Wirkung. Das Prinzip ist: Was die Autoren abliefern,
       [1][kommt auf die Website]. Wir machen keine Qualitätsprüfung.
       
       Antje Ehmann: Das ist nur bei den Ausstellungen wie in Essen anders. Dafür
       wählen wir die besten Filme aus.
       
       Sind die AutorInnen Amateure oder Profis? 
       
       Ehmann: Alles vermischt. Es gibt Arrivierte und Neulinge. Das Gros sind
       Filmstudenten oder Leute mit TV-Erfahrung.
       
       Haben Sie Filme überrascht? 
       
       Farocki: Es gibt Miniaturen, auf die man konzeptuell nicht kommen würde.
       [2][In Ägypten gibt es eine Szene]: Zwei Leute werfen sich Sechserpacks von
       Colaflaschen zu, die in einen Keller transportiert werden. Einer macht
       einen Scherz und lässt die Flaschen nicht los, in dem Moment hört man den
       Ruf des Muezzins. Das ist nicht geplant.
       
       Ein anderes Beispiel? 
       
       Farocki: Ein Film aus Vietnam folgt einer Frau, die mit der Hand mühsam
       Reis aufsammelt, wie in einem Film über den Vietcong vor vierzig Jahren. Am
       Ende sieht man über ihr eine gewaltige, neue Brücke – und so das
       Nebeneinander von Hightech und Primitivem in einem Bild. Oder eine Frau,
       die in Vietnam kleine Bündel von Gewürzen verkauft, in einem Gewimmel von
       Motorrollern. Wenn man alle Filme zusammen nimmt, gewinnt man den Eindruck:
       Es herrscht global das Ideal der westlichen, konsumistischen Lebensform.
       Aber daneben gibt es eine ungeheure Vielfalt. Von Kleidung, Lebensweisen,
       Arbeitsformen. Manchmal ist das in einem Bild erkennbar.
       
       Will dieses Projekt zeigen, was sonst ausgeblendet wird, früher hätte man
       gesagt: Gegenöffentlichkeit schaffen? 
       
       Farocki: Ja, es wird ja noch immer viel mehr Energie darauf verwendet, in
       Filmen Liebe, Produkte oder Kriminalität zu zeigen. Arbeit ist randständig.
       
       Ehmann: Dazu kommt, dass dies ein globales Projekt ist. Wir hätten zeigen
       können, was die Leute in ihrer Freizeit tun. Doch Arbeit erzählt mehr von
       der sozialen Beschaffenheit einer Gesellschaft. Arbeit ist zentral.
       
       Das Projekt erinnert an die Videobewegung in den 80er Jahren, an den Traum,
       das jedermann Bilder seines Alltags herstellen kann und die Bilder
       demokratisiert werden. Ist das eine Referenz? 
       
       Farocki: So nicht. Die Autoren arbeiten ja nicht in den Betrieben, sie
       kommen von außen dorthin.
       
       Ehmann: Heutzutage kann jeder mit seinem Handy Filme machen. Das Problem
       ist die Fülle und Beliebigkeit der Bilder. Wir wollten dem mit Beschränkung
       entgegenwirken. Deshalb gibt es nur eine Einstellung, die höchstens zwei
       Minuten lang sein darf. Da kann man nicht einfach draufhalten.
       
       Ist die Erwartung, konzeptuell durchdachte Filme über Arbeit zu bekommen,
       erfüllt worden? 
       
       Ehmann: Ja. Wir haben bislang zwölf Workshops gemacht. Ich habe mich nie
       gelangweilt. Es ist erstaunlich, dass es trotz unseres rigiden Ansatzes
       eine solche Vielfalt von Bildern gibt.
       
       Farocki: In der Beschränkung gibt es einen Reichtum. Wie viel man mit einem
       Schwenk erzählen kann, zeigt ein Film aus Vietnam. Man sieht ein etwa
       vierjähriges Mädchen, das konzentriert einen Hut näht. Daneben ihre etwa
       dreizehnjährige Schwester, daneben ihre Eltern. Alle nähen Hüte. Die Kamera
       schwenkt von einer Person zur nächsten und erzählt so eine möglich Zukunft
       des Mädchens.
       
       Haben die AutorInnen von Rio bis Moskau nach typischen Arbeitsszenen
       gesucht, die ihr Milieu oder ihr Land repräsentieren? Nach Hitchcocks
       Motto, dass man, um Paris zu zeigen, den Eifelturm ins Bild rücken muss? 
       
       Farocki: Nicht wie Hitchcock. Aber man sieht manchmal Kennzeichnendes. Zum
       Beispiel eine Textilfirma in Rio. Die Frauen bleiben vor dem Werksausgang
       stehen und reden miteinander. Das ist die Ausnahme. Sonst strömen alle so
       schnell wie möglich fort. Man sieht, dass auch Dickere ein körperliches
       Selbstbewusstsein ausstrahlen, das sonst selten ist. Und dass Näherinnen
       auch nach acht Stunden harter Arbeit sexy aussehen wollen. Das zu zeigen,
       ist kein Stereotyp. In manchen Bildern in Lodz wirken die Räume viel zu
       groß für das, was hergestellt wird. Das ist ein Hinweis darauf, dass dort
       mal riesige Textilindustrien waren, die stillgelegt wurden. Das zu zeigen,
       ist nicht der Eifelturm.
       
       [3][In „Arbeiter verlassen die] Fabrik“ haben Sie das erste bewegte
       dokumentarische Bild gezeigt: 1895 strömen Arbeiter aus der Fabrik der
       Gebrüder Lumière. Die Anzahl der Arbeiter sollte den Reichtum der Firma
       symbolisieren. Gibt es 2014 vergleichbare Bilder? 
       
       Farocki: Heute würde niemand mehr – wie noch in den 50er Jahren VW oder
       Siemens – in einem Imagefilm Massen von Arbeitern zeigen, um damit zu
       illustrieren, wie viele Beschäftigte man hat. 2014 zeigt niemand Arbeiter
       oder Produktion, wenn dann computergeneriert. Fehlbare Menschen am
       Fließband gelten nicht als vertrauensfördernd.
       
       Ist das auch in der Dritten Welt so? 
       
       Farocki: Gerade dort. Firmen wie H&M würden nie Frauen in Asien zeigen, die
       die Textilfabriken verlassen und wahrscheinlich kontrolliert werden, ob sie
       ein Hemd haben mitgehen lassen. Solche Unternehmen geben Geld aus, um zu
       verbergen, wo ihre Waren produziert werden.
       
       Gibt es noch Bilder von Arbeitern als Kollektiv, so wie wir sie aus dem
       Industriekapitalismus kennen? 
       
       Ehmann: Eigentlich nicht. Ein Ausnahme ist eine Canon-Fabrik in Vietnam, wo
       2.000 Frauen arbeiten, die in Schüben das Werk betreten und es wieder
       verlassen. Ansonsten haben Drehtüren oft die Werkstore ersetzt, es gibt
       gleitende Arbeitszeiten und daher kaum noch Massenansammlungen. Lustig ist
       ein Bild, das eine Straße in Kairo zeigt, scheinbar mit Passanten. Die
       meisten haben eine Zeitung unter dem Arm. Das sind Mitarbeiter der Zeitung
       al-Ahram nach der Arbeit.
       
       Farocki: Die hat 5.000 Redakteure. Ein paar mehr als die taz.
       
       Welche Bilder konnten nicht gedreht werden? 
       
       Farocki: Es gibt einen wunderbaren Film aus Bangalore: Eine Katze schaut
       einem Schlachter zu, der Ziegenköpfe skalpiert. Es wäre besser, wenn man
       auch sehen würde, wie viele Schlachter in diesem Raum arbeiten. Die Autorin
       hat das versucht – flog aber in genau dem Moment raus. Weil zu viele Ratten
       ins Bild kamen.
       
       Ehmann: Die Beschränkung, in Produktionstätten zu filmen, führen zu
       bizarren Verzerrungen. Bangalore ist die Stadt mit der größten IT-Industrie
       in Indien. Die Filme zeigen aber nur den öffentlichen Raum, Tattoo-Shops
       oder Kellner. Kein Callcenter, nichts von der IT-Branche.
       
       Warum? 
       
       Farocki: Es ist kompliziert, für Betriebe Drehgenehmigungen zu erhalten. Es
       gibt zwar Bilder aus einem Stahlwerk in Buenos Aires und aus einer
       Textilfabrik in Rio. Aber auch das aus Zufall, der Besitzer des Stahlwerks
       in Rio ist Kunstsammler und Förderer des Museums, mit dem wir
       zusammengearbeitet haben. Deshalb hatten wir eine carte blanche für das
       Stahlwerk.
       
       Was fehlt in den Filmen? 
       
       Farocki: Die neuen Berufe. Das Beratungsgewerbe, das Management. Oder
       Institute, die sich den Kopf über Großraumbüros zerbrechen und ob
       Mitarbeiter produktiver sind, wenn sie sitzen oder stehen.
       
       Wem gehören die Filme? 
       
       Ehmann: Den Autoren. Wir haben keine Rechte daran.
       
       Wann ist das Projekt beendet? 
       
       Ehmann: Am besten gar nicht. Es hat etwas von einer Enzyklopädie.
       Eigentlich ist es auf Unendlichkeit angelegt. Wenn wir aufhören, sollten
       andere weitermachen. Das wäre gut.
       
       7 Aug 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.eine-einstellung-zur-arbeit.net/de/filme/
   DIR [2] http://vimeo.com/58263789
   DIR [3] http://vimeo.com/79552882
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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