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       # taz.de -- Chilly Gonzales auf Kampnagel: Fast wie ein Stummfilm
       
       > Ein Märchen von Hans Christian Andersen bietet dem Performer Chilly
       > Gonzales eine breite Fläche zum Spiel mit Doppelgängern und Scharlatanen.
       
   IMG Bild: Hat sich noch einmal komplett neu erfunden: Chilly Gonzalez (vor seiner Verwandlung).
       
       Mit Chilly Gonzales hat das diesjährige Internationale Sommerfestival auf
       Kampnagel in Hamburg zum Auftakt einen berüchtigten Performance-Künstler
       eingeladen. Einen Performance-Künstler allerdings, der keiner mehr sein
       will, denn der Piano-Star aus Kanada hat sich für die Uraufführung seiner
       Bühnenversion des Märchens „Der Schatten“ von Hans Christian Andersen noch
       einmal komplett neu erfunden.
       
       War Gonzales bisher berüchtigt für seinen Dialog mit dem Publikum und schuf
       auf seinen Konzerten mittels Musik und Bühnenperformance immer wieder ein
       schillerndes Gesamtkunstwerk an der Grenze zur Parodie, so beschränkt er
       sich dieses Mal auf die Rolle des ernst zu nehmenden Komponisten. Und
       vertraut ganz auf die Kraft seiner Musik – ohne Gags und zusammenbrechende
       Klavierhocker, ohne Witze und Entertainment.
       
       Mit „Der Schatten“ hat sich Gonzales dafür einen Stoff ausgesucht, der viel
       mit ihm selbst zu tun hat, wie er freimütig bekennt. Es gehe in dem Märchen
       um „Dualität und Scharlatanerie“, Themen, die in seinem bisherigen Leben
       mehr als einmal eine Rolle gespielt hätten.
       
       Im Zentrum der dunklen Bühne steht ein einsamer Musikpavillon, in dem der
       Meister mit einem kleinen Orchester eine Partitur intoniert, die stark an
       die Begleitmusik zu einem Stummfilm erinnert. Denn gesprochen wird in
       dieser Inszenierung kein Wort. Dafür werden auf den beiden Leinwänden
       rechts und links des Pavillons immer wieder ornamentierte Texttafeln
       eingeblendet, die uns sagen sollen, was Schatten und Herr miteinander zu
       besprechen haben.
       
       ## Leidenschaft verbannt
       
       Zunächst tatsächlich nur als Schattenspiele sind die Figuren aus Andersens
       Märchen präsent. Da ist der verkopfte und lebensferne Gelehrte, der eines
       Tages seinen Schatten verliert und fortan ohne ihn leben muss. Beim näheren
       Hinsehen fehlt dem fragilen Männchen nicht nur der Schatten, sondern auch
       die Leidenschaft, abgespaltene Teile seiner Persönlichkeit, die er mitsamt
       Schatten gleichsam vor die Tür verbannt hat. Als der Schatten nach Jahren
       zurückkehrt, bleibt dem kränkelnden Gelehrten wenig Kraft zur Gegenwehr,
       fortan wird er von seinen dunklen Trieben beherrscht, die der Schatten in
       dieser Bühnenversion glänzend verkörpert.
       
       Denn zu Gonzales musikalischen Stummfilm-Gefühlsorgien hat der Regisseur
       Adam Traynor eine Frau in das schwarze Schattenkostüm gesteckt. Die sieht
       zwar mit den großen, aufgeschminkten Augen in dem maskenhaft, weißen
       Gesicht ihrem kranken Herrn zum Verwechseln ähnlich. Aber die schemenhaften
       weiblichen Formen lassen in ihrer Körpersprache eine andere Welt erkennen.
       
       Eine Welt der Sinnlichkeit, der Vitalität und des Sexes – der Schatten lebt
       fortan jenes Leben, das der einsame Wissenschaftler nicht zu leben bereit
       ist. Und gewinnt immer mehr die Oberhand über ihn. Spätestens als die
       Prinzessin, ein fragiles, püppchenhaftes Geschöpf, das der Gelehrte für
       sich gewinnen will, lieber mit dem Schatten einen sinnlichen, ausufernden
       Walzer tanzen will als mit dem Original. Der wird irgendwann vom Schatten
       kaltgestellt und hinter die Leinwand verbannt, wo von ihm nur noch eine
       dunkle Spiegelung übrig bleibt.
       
       ## Schattenspiel
       
       Im Gegensatz zum Märchen lassen Gonzales und Traynor bewusst offen, ob mit
       dem Schatten tatsächlich das Böse gewinnt, oder aber hier im Schattenspiel
       eine Persönlichkeit zu sich selbst findet, die auch das Sinnliche,
       Leidenschaftliche und Brutale zu integrieren weiß. Denn die Schatten-Frau
       müht sich immer wieder redlich um ihr Alter Ego, das sie ähnlich wie
       Mephisto in Goethes „Faust“ auf eine Reise zu den verdrängten Freuden des
       Lebens zu entführen weiß.
       
       Als gegen Ende dieser wahrhaft berauschenden Eröffnungspremiere Gonzales
       seinen einsamen Platz im Pavillon verlässt und mit einem Handpiano diese
       Geisterwelt betritt, wirft auch er einen großen Schatten auf den
       Bühnenboden. Und wir fragen uns unwillkürlich, ob dieser Schatten jener
       Jason Charles Beck ist, der Gonzales einst war, bevor er sich als
       Kunstfigur neu erfand.
       
       Ein unheimlich-schöner Stoff ist das, für Diskussionen bis in die Nacht.
       Auf dem riesigen, verschachtelten Freigelände des Kampnagel-Sommerfestivals
       ist in den kommenden Wochen viel Raum für Gespräche, zwischen Künstlern und
       Publikum – und den allgegenwärtigen Schatten.
       
       9 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alexander Kohlmann
       
       ## TAGS
       
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