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       # taz.de -- Feminismus der 70er Jahre: Existenzielle Einsamkeit
       
       > Die neue Ausgabe der Zeitschrift „Mittelweg 36“ erkundet das Vermächtnis
       > der wegweisenden Feministin Shulamith Firestone.
       
   IMG Bild: Für Shulamith Firestone stand fest: Durch Reproduktionsmedizin befreit sich die Frau von der Bürde der Schwangerschaft.
       
       Ihre Freunde nannten sie Shulie. Shulamith Firestone, die 1975 mit ihrem
       Buch „The Dialectic of Sex“ („Frauenbefreiung und sexuelle Revolution“)
       einen Grundstein des radikalen Feminismus legte, rückt uns erstaunlich nahe
       in der neuen Ausgabe von Mittelweg 36, der Zeitschrift des Hamburger
       Instituts für Sozialforschung.
       
       Die beschäftigt sich mit der Frage, wie anschlussfähig Firestones
       erstaunlich unpolitischen Vorstellungen von der zukünftigen
       Gesellschaftsentwicklung heute sind. Vor allem glänzt der Band durch die
       Übersetzung des großartigen Nachrufs, den die Publizistin Susan Faludi für
       den New Yorker zum Tod Firestones 2013 verfasste.
       
       Sie beschreibt die „Female Malady“, die Feministinnen geradezu strukturell
       befallen konnte und an der auch Firestone zugrunde ging. Sie mussten in
       zwei Systemen denken: In der Normalität lauerten überall und unbewusst
       Strukturen der Unterdrückung. Und das Land der Freiheit, der bitter nötige
       Gegenentwurf, musste selbst erst noch erfunden werden – was gründlich
       misslang.
       
       Feministinnen liefen in jenen frühen Zeiten sehr viel leichter als heute,
       da die Analyse doppelter Standards zum allgemeinen kritischen Besteck
       gehört, Gefahr, in einem Niemandsland zu leben: Eine Frau, so beschrieb es
       eine Autorin in einem von Firestone damals herausgegebenen Sammelband,
       gehöre entweder einem Mann an oder verschwinde im „Nirgendwo, am Rand einer
       Leere taumelnd, ohne eine Aufgabe zu haben, und ohne jegliches Gefühl für
       ihre Identität“.
       
       ## Tödliche Schwesternschaft
       
       Diese existenzielle Einsamkeit hätten Frauengruppen aufheben sollen. Doch
       das geschah nicht. Kate Millet schreibt im Rückblick: „Wir waren unfähig,
       etwas aufzubauen, was solide genug war, um Gemeinschaft oder Sicherheit zu
       schaffen.“ Und Ti-Grace Atkinson urteilt: „Schwesternschaft ist mächtig.
       Sie tötet. Vor allem Schwestern.“
       
       Firestone ist ein markantes Beispiel dafür, weil sie es war, die die
       repressive Struktur der Kleinfamilie bis ins Mark kritisiert und radikal
       für deren Auflösung plädierte. In der ihr eigenen Technikgläubigkeit
       erwartete sie, dass die Reproduktionstechnologien die Frauen von
       Schwangerschaften befreien und damit auch die Symbiose von Mutter und Kind
       auflösen würden. Die Kinderbetreuung würde durch Wahleltern erfolgen.
       Menschliche Bindungen würden auf der Grundlage völliger Freiheit blühen.
       Aber was hatten die Feministinnen der Gegenwart? Tödliche Schwesternschaft.
       
       Die Muster, nach denen auch Firestones feministische Karriere verlief,
       waren oft sehr ähnlich: Unternehmerische und durchsetzungsstarke Frauen
       gründen eine Gruppe, in der männliche Dominanz seziert wird. Dann stellt
       die Gruppe fest, dass ihre Anführerin auch „männliche Dominanz“ ausstrahlt.
       Und macht dieser so lange das Leben schwer, bis sie sich zurückzieht.
       
       So ging es auch Firestone mit den „New York Radical Feminists“. Schon bei
       Erscheinen ihres Bestsellers hatte sie sich völlig von der feministischen
       Szene verabschiedet. Sie vereinsamte und versank später in der
       Schizophrenie.
       
       Gab es eine andere Möglichkeit? Karin Wieland zeichnet noch einmal nach,
       gegen welch eine Mauer männlicher Ignoranz die Feministinnen der zweiten
       Welle liefen: „Überall trafen sie auf Männer, die Frauen nur benutzten.“
       Die Analyse dieses Verhältnisses war das Kernthema von Firestone.
       
       ## Ohne politische Strategie
       
       Welche Anschlüsse lassen sich heute herstellen? Nina Power verweist
       skeptisch darauf, dass Firestones Zukunftsmodell keine politische Strategie
       kenne und ihr Denken deshalb „zwischen grandiosem Technofuturismus und
       haltloser Spekulation“ schwanke. Von der Auflösung der Kernfamilie sei weit
       und breit nichts zu sehen.
       
       Wirklich nicht?, fragt Ilona Ostner, die in der heutigen Familienpolitik
       einen „schwindenden Maternalismus“ erkennt, der durch einen Parentalismus
       (Elternzeit für beide) und vor allem durch Bildung als staatlichen Auftrag
       ersetzt werde. Auch nicht unproblematisch, meint sie, aber das nicht
       vorhergesehen zu haben, kann man unmöglich Shulamith Firestone vorwerfen.
       
       6 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heide Oestreich
       
       ## TAGS
       
   DIR Feminismus
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   DIR Sibylle Lewitscharoff
   DIR Feminismus
       
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